Bestuhlung im Deutschen Bundestag – so sitzen Politikerinnen und Entscheider
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Ein fester Platz im Deutschen Bundestag - ein Stuhl und seine Geschichte
Alle vier Jahre ist es wieder soweit: Mit der Bundestagswahl beginnt das große „Stühlerücken“ und damit die Hoffnung der Abgeordneten, für die nächsten vier Jahre auf einem der auffälligen blauen Exemplare im Parlament Platz nehmen zu können. Dass es den Kandidatinnen und Kandidaten dabei nicht um den Stuhl an sich geht, liegt auf der Hand. Auch wenn dieser seit vielen Jahren eine wirklich gute Figur macht und sich zu inszenieren weiß. Aber wie kommt man eigentlich als Stuhl in den Bundestag und welche Qualifikationen braucht man dafür? Zeit für einen Ausflug in den Sitz der Macht und eine Hommage an das zeitüberdauernde Modell Figura.
Von Apollo bis Kaiser Wilhelm
Sitzmöbel sind bekanntlich seit jeher eng mit politischer und religiöser Macht verbunden. Man denke nur an den guten alten Thron. Er ist seit der Antike ein Symbol für Könige und Götter, und zwar in allen Ländern und Religionen. So haben nicht nur Buddha oder Shiva und Parvati einen repräsentativen Sitz, sondern auch der Papst einen Heiligen Stuhl - eine symbolische Bezeichnung für sein Amt als Bischof von Rom. Im Laufe der Jahrhunderte hat sich der Stuhl in ein demokratisches Objekt unseres weltlichen Alltags verwandelt, auf dem wir arbeiten, denken, essen, feiern oder träumen. Doch während es auf der einen Seite um so schwerwiegende Fragen wie Wein oder nicht Wein geht, geht es auf der anderen Seite um weitaus komplexere Entscheidungen, die unser Land und unsere Welt betreffen. Dass es dabei nicht um irgendeinen Küchenstuhl geht, sondern um einen Stuhl von Rang und Namen, liegt auf der Hand. Und auch wenn Politikerinnen und Politiker oft zwischen zwei Stühlen sitzen, so sollten es doch bequeme Stühle sein. Schließlich dauerte die bisher längste Sitzung des Parlaments über 20 Stunden.
Bella Figura - ein Stuhl mit Geschichte
Auf den ersten Blick versprüht das eher kühle, graue Ambiente in den heiligen Hallen des Berliner Reichstags wenig italienischen Charme. Und doch thront inmitten der Inszenierung der blau schimmernde Figura, dessen Urmodell 1984 von dem italienischen Designer und Architekten Mario Bellini und seinem Mitarbeiter Dieter Thiel für das Schweizer Unternehmen Vitra entworfen und in Weil am Rhein produziert wurde. Ursprünglich als Bürodrehstuhl konzipiert, ruht das Modell mit der einladenden Sitzfläche und der klaren Rückenlehne in der Standardausführung auf einem Fußkreuz aus Aluminium und Stahl mit fünf Rollen, ist bequem gepolstert und mit Stoff oder Leder bezogen. Neben den vielfältigen Möglichkeiten unterschiedlichster Einstellungen und Haltungen lädt die bequeme Armlehne in logischer Formführung zum weiteren Nachdenken und Entscheiden ein. Ein schnörkelloser, ehrlicher Stuhl voller Funktionalität und Offenheit, der die deutsche Gründlichkeit und Disziplin mit innerer Sehnsucht ergänzt. Denn die Polsterung der Rückenlehne mündet in eine taillierte Form, die den Stuhl überraschend elegant und leicht erscheinen lässt. Ein Hauch von Dolce Vita mitten im Büroalltag, mit klaren Linien und schlichter Eleganz - was passt besser zu einer guten und nachhaltigen Geschichte.
Einzug in den Bundestag
Der erste große Auftritt kam 1992, als der Vitra Figura in einer Sonderanfertigung in den Bonner Bundestag eingeladen wurde um den damals neuen Plenarsaal zu bestuhlen. Bezogen in einem neutralen Königsblau, das sich von allen Parteien unterscheiden sollte. Heute wird die Farbe der Stühle umso vehementer von jeder politischen Haltung abgegrenzt und als Farbe der Demokratie bezeichnet. Als das Parlament 1999 in das umgebaute Reichstagsgebäude im Berliner Spreebogen einzog, konnte das Bonner Konzept nicht einfach kopiert werden. Der britische Architekt Norman Foster hatte zunächst neue Pläne, doch am Ende war der Stuhl Figura von Vitra wieder mit von der Partie. Er hatte sich bereits in Bonn bewährt und sollte auf Wunsch der Parlamentarierinnen und Parlamentarier seine stilsichere Erfolgsgeschichte auch in Berlin fortsetzen.
„Reichstags-Blue“ – ein Farbkonzept mit Medienwirkung
Wenn die Kamera durch den grauen Plenarsaal schwenkt, atmet man dankbar auf, wenn jenseits von Deutschland- und Europafahne und einigen anderen bunten Kostümen das leuchtende Blau der Stühle aufblitzt. So gut das Konzept von Foster auch aufgeht, die Sitze in Grau zu tauchen, wie ursprünglich geplant, wäre dann doch zu viel des Guten gewesen. Basierend auf einem Farbkonzept des dänischen Künstlers Per Arnoldi wählte Foster für die neue Sonderedition des Figura ein tiefes Blau mit violettem Schimmer, das er „Reichstags-Blau“ nannte und als eigene Farbe schützen ließ. Auf jeden Fall ein passender Kontrast, der perfekt mit den Sichtbetonflächen und den vielen Grautönen der Wände, Tische und Teppiche harmoniert und sich ideal für Fernsehübertragungen eignet. Dass die Stühle im Deutschen Bundestag etwas Besonderes sind, beweist auch der Bezug aus hochwertigem und strapazierfähigem Wollstoff, der speziell für den Bundestag ausgewählt wurde. Vielleicht, weil man hier noch nervöser auf der Sitzfläche hin- und herrutscht als anderswo. Zur Not kann man sich auch an den Armlehnen festhalten, die in Bonn noch aus Holz waren, in Berlin aber mit schwarzem Kunststoff überzogen sind und so einiges aushalten sollten.
Die Sitzverteilung der Demokratie
Man nehme eine Bundeskanzlerin, ihre Ministerinnen und Minister, jede Menge Abgeordnete, Schreibkräfte, Besucherinnen und Besucher und der Plenarsaal ist voll. Über 1000 Menschen finden hier Platz, aber nicht alle Sitze sind gleich. Abgesehen von ihrem Gewicht, rund 25 Kilo. So haben die Stühle des Bundeskanzlers oder der Bundeskanzlerin und des Bundesratspräsidenten oder der Bundesratspräsidentin eine höhere Rückenlehne. Dafür sind die Stühle des Präsidiums auf Rollen und damit frei beweglich. Dass das so genannte „Stühlerücken“ nur eine Metapher ist, zeigt sich daran, dass die übrigen Stühle auf Säulen fest im Boden verankert sind. Nur die Stühle in den vorderen Reihen des Plenarsaals lassen sich auf Schienen vor- und zurückschieben, was bei hitzigen Debatten das Aufstehen erleichtert und mehr körperliche Bewegungsfreiheit ermöglicht. Für die Stenografinnen und Stenografen gibt es wiederum nur runde Hocker in „Reichstagsblau“. Das ist natürlich nicht wirklich fair und gleichberechtigt, wird aber seine Gründe haben.
Vitra – die Macht des richtigen Gespürs
Dass der Figura Stuhl aus dem Hause Vitra stammt, wundert kaum, schließlich beweist das Schweizer Unternehmen seit 1950 ein feines Gespür für die richtige Form und vereint die namhaftesten Vertreter*innen aus Design und Architektur unter seinem Dach und auf seinem Campus. Die Sitz- und Liegemöbel von Charles und Ray Eames oder der Panton Chair zählen bis heute zu den erfolgreichsten Produkten des Wohn- und Büromöbelherstellers. Und auch Figura hat jenseits seiner politischen Wirkungskraft vielzählige Designpreise erhalten. Wer allerdings einmal auf dem italienischen Klassiker im Reichstagslook sitzen möchte, muss dafür den Plenarsaal besuchen. Im Verkaufssortiment ist das Modell nicht mehr enthalten. Für die zuverlässige Versorgung des Deutschen Bundestages scheint Vitra jedoch langfristige Vorkehrungen getroffen zu haben. Es kann also weiter debattiert und gerückt werden, sitzend wie stehend.
Der Aluminium Chair des Kanzlers oder der Kanzelerin - ein Stuhl mit Charakter
Nur wenige Gehminuten entfernt steht ein weiterer Klassiker der Stuhlgeschichte an prominenter Stelle, denn wenn die Kanzelerin oder der Kanzler nicht im Bundestag sitzen, dann sitzen sie im Kanzleramt auf einem Vitra Aluminium Chair EA 117. Gäbe es heute noch einen Thron, der 1958 von Charles und Ray Eames entworfene Stuhl hätte diesen Titel wohl verdient. Denn er zeigt offen, was er ist: eine raffinierte Konstruktion ohne Sitzschale, die Leder oder Textilbahnen zwischen zwei Aluminiumbügeln straff spannt. Klar, fließend und dynamisch passt er sich der Wirbelsäule ideal an und sorgt so für eine aufrechte Haltung. Ein Stuhl, der souverän und menschlich wirkt, leicht und stabil zugleich, gibt ein gutes Gefühl in turbulenten Zeiten.
Vom Round Chair über den East River
Ob im Kanzleramt oder in den eigenen vier Wänden - Möbel und insbesondere Sitzmöbel spiegeln in der Regel unsere Werte und Einstellungen wider. Und auch bei öffentlichen Auftritten haben sie oft mehr Bedeutung, als es auf den ersten Blick scheint. So wurde bei der Fernsehdebatte zwischen John F. Kennedy und Richard Nixon 1960 der Round Chair des dänischen Designers Hans J. Wegner verwendet. Ein Stuhl mit zurückhaltender Formensprache, der von allen Seiten gut aussieht und Schlichtheit, Eleganz und Kompetenz in sich vereint. Ein Symbol für Bescheidenheit und Volksnähe und damit ein gut gewähltes und platziertes Accessoire. Auch die niederländische Designerin Hella Jongerius schuf für das UN-Hauptquartier in New York einen Stuhl, der für sich spricht und mit seiner offenen Form und der farbigen Stoffoberfläche Mut zur Veränderung signalisiert - East River Chair heißt das ungewöhnliche und mehr als einladende Modell. Lang ist die Reihe der signifikanten Sitzmöbel und ihrer subtilen Aussagen zu Autorität, Dominanz, Transparenz, Offenheit, Pluralität, Gelassenheit bis hin zum Do-it-yourself. Welcher Stuhl zu welcher Funktion und vor allem zu welcher Person passt, lässt sich natürlich nicht verallgemeinern. In der Regel passt zusammen, was zusammengehört. Fest steht, dass echte Klassiker nicht nur Stil verkörpern, charismatische Erhabenheit ausstrahlen und Souveränität versprechen, sondern meist auch eine lange Geschichte haben. Und Möbel mit Geschichte bleiben wichtig, begleiten uns durch die Zeit und wollen weitererzählt werden.