In der Ausstellung “A Chair and You” im GRASSI Museum für Angewandte Kunst in Leipzig kann man Stühle betrachten, studieren und erforschen, aber nicht darauf sitzen.
Im Gegensatz dazu dürfen sich die Besucher auf den dreizehn Stühlen der smow Präsentation “Pop-up: Stühle zum (Be)Sitzen” im ersten Stock des GRASSI Museums für Angewandte Kunst, Leipzig, auch niederlassen.
Präsentiert werden hier dreizehn Stühle, die verschiedene Definitionen des Begriffs „Stuhl“ und ganz unterschiedliche Sitzerfahrungen in sich vereinen.
Um gleich zur Sache zu kommen: Ja, “Pop-up: Stühle zum (Be)Sitzen” ist eine Präsentation, eine kleine Ausstellung von smow. Das Wortspiel mit “Sitzen” und “Besitzen” im Titel macht deutlich, was ein Möbelhaus im Gegensatz zu einem Möbelmuseum bieten kann. Ein noch deutlicherer Hinweis darauf, dass hinter dieser Präsentation ein Möbelhändler steht, ist der smow Pop-up-Teil des Titels.
Doch obwohl es sich um eine smow-Präsentation handelt, ist “Stühle zum (Be)Sitzen” nicht die Art von Guerilla-Ausstellung, die wir früher gemacht haben – das waren noch Zeiten. “Stühle zum (Be)Sitzen” ist stattdessen ein Teil der 150-Jahr-Feier des GRASSI Museums für Angewandte Kunst und in vielerlei Hinsicht eine Ergänzung zur Ausstellung “A Chair And You”. Die Pop-up Ausstellung bietet einen Raum, um auf einem Stuhl zu sitzen und die in “A Chair and You” aufgenommenen Gedanken weiter zu spinnen und anzureichern. Außerdem handelt es sich um einen alternativen Raum außerhalb der Dauerausstellung des GRASSI Museums für Angewandte Kunst, der einen kurzen Rundgang durch die jüngste Geschichte des Stuhldesigns bietet.
Dieser kurze Streifzug durch die jüngere Geschichte des Stuhldesigns beginnt mit Michael Thonets Stuhl Nr.14 von 1859, der heute 214 heißt und auch als Wiener Kaffeehausstuhl bekannt ist. Dabei handelt es sich um ein Werk, das die Stuhlproduktion neu definierte und den Beginn der industrialisierten Möbelproduktion markiert.
Vom Thonet 214 führt der Weg zum Thonet Bugholzsessel 209 aus dem Jahr 1900. Dieser Stuhl der Gebrüder Thonet macht auch deutlich, dass die Geschichte des Möbeldesigns keine Geschichte von „Star“-Designern, sondern von Teamarbeit ist. Le Corbusier schätzte den 209 so sehr, dass er ihn in vielen seiner Interieurs einsetzte, unter anderem in den Häusern der Stuttgarter Weißenhofsiedlung von 1927.
Dort stellte Mart Stam auch die, soweit bekannt, ersten Freischwinger aus Stahlrohr vor. Der Thonet S 33, der auch bei “Stühle zum (Be)Sitzen” zu entdecken ist, gilt als direkte Weiterentwicklung dieser ersten Modelle. Die Stühle Thonet S 33 und Thonet 209, repräsentieren in ihrem Gegenüber von gebogenem Holz und gebogenem Stahlrohr die Visionen der funktionalistischen Moderne und stellen die wichtige Rolle Thonets für die Entwicklung des Möbeldesigns zu Beginn des 20. Jahrhunderts heraus.
Die geschwungene, organische Reduktion der Thonet Stühle findet sich auch im Barcelona-Stuhl von Ludwig Mies van der Rohe aus dem Jahr 1929 wieder, der zunächst für das spanische Königspaar bei ihrem kurzen Besuch im deutschen Pavillon der Weltausstellung in Barcelona 1929 als Sitzgelegenheit diente. Nicht umsonst ist der Barcelona Chair heute unbestritten der Archetyp des repräsentativen Loungesessels.
Formal dem Barcelona Chair von Mies van der Rohe nicht unähnlich, ist der Crate Lounge Chair von Gerrit T. Rietveld aus dem Jahr 1934, der hier in der Neuauflage von Hay zu sehen ist. Wir würden uns wünschen, dass Hay die Gelegenheit des Relaunchs nutzt, um recyceltes Holz zu verwenden und so das zu verwirklichen, was Rietveld in den 1930er Jahren anstrebte. Das wäre ein Design, das Materialien und ihre Verwertungskreisläufe im Sinne des 21. Jahrhunderts reflektiert.
Ähnliches gilt für den Eames RAR Stuhl, der neben Rietvelds Crate Lounge Chair steht. Die Sitzschalen wurden ursprünglich aus Fiberglas hergestellt. Aus ökologischen Gründen wurde die Produktion zuerst auf Polypropylen und im Jahr 2024 auf einen neuartigen synthetischen Kunststoff umgestellt, der aus recycelten Abfällen gewonnen wird.
Der RAR läutet das am stärksten vertretene Jahrzehnt der “Stühle zum (Be)Sitzen” ein: Es folgen Poul Kjærholms PK 4 und der so genannte Element-Stuhl, der PK 25 von Fritz Hansen aus den 1950er Jahren.
Der PK 4 war auch ein Versuch, erschwingliche Möbel für ein Massenpublikum im Dänemark der 1950er Jahre zu entwickeln.
Im Kontext dieses Anspruches ist auch der Arne Jacobsens Serie 7 Stuhl aus dem Jahr 1955 zu anzusiedeln.Im Dänemark der 1950er Jahre wurde auch über die Machbarkeit eines Stuhls nachgedacht, der erst 1967 fertiggestellt wurde und 1968 in Serie ging: Verner Pantons gleichnamiger Vitra-Stuhl.
Der Panton Chair griff die Freischwinger-Konstruktion von Stams S 33 und seiner Zeitgenossen auf und übersetzte sie statt in Stahlrohr in Polyurethan. Damit trug der Panton Chair auch dazu bei, die Haltbarkeit synthetischer Kunststoffe zu bestätigen. Darüber hinaus kehrte der Panton Chair, indem er die kubistischen Ecken der funktionalistisch-modernistischen Stahlrohrmöbel der 1920er und 1930er Jahre abrundete, zu den fließenden Rundungen eines Michael Thonet zurück und passte damit in die freizügigere westeuropäische Gesellschaft der 1970er Jahre.
Auch der Stuhl 3300 von Bruno Rey aus dem Jahr 1971 spiegelt diese formale Wende wider. Der Stuhl wurde ursprünglich von Dietiker hergestellt, einem Schweizer Hersteller, der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle für die Entwicklung des Möbeldesigns und der Möbelindustrie in der Schweiz spielte. Inzwischen wurde er in Zusammenarbeit mit Hay als Rey Chair neu aufgelegt.
Der Rey Chair knüpft nicht nur optisch an den Thonet Nr. 14 an. Herzstück des Rey Chairs ist ein von Rey und Dietiker entwickelter Aluminiumbügel, der eine schraubenlose Metall-Holz-Verbindung und eine zwischen den Beinen „schwebende“ Sitzfläche ermöglicht. Auch hier kommt also eine innovative Technologie zum Einsatz, die ein neues Konstruktionsprinzip ermöglicht.
Die Reise durch die Geschichte des Stuhldesigns in Westeuropa beginnt nach den 1970er Jahren erst wieder 2005 mit dem Stuhl Victoria Ghost von Kartell. Es handelt sich um ein Werk des Designers Phillippe Starck, der sich in den 1980er und 1990er Jahren stark profilierte und für das Selbstbewusstsein, die Frechheit, die Dekadenz und die Provokation des Designs im Frankreich der 1980er und 1990er Jahre steht. Der Victoria Ghost geht auf den Stuhl La Marie aus dem Jahr 1998 zurück, den ersten vollständig transparenten Stuhl der Welt.
Der kleine Streifzug durch die Geschichte des Stuhldesigns endet bei “Stühle zum (Be)Sitzen” mit dem Pressed Chair von Harry Thaler aus dem Jahr 2011 für Nils Holger Moormann.
Wie Harry uns einmal erzählte, begann dieser Entwurf mit einer kleinen Gabel aus einem Stück Holz und entwickelte sich zu dem Wunsch, einen Stuhl aus einem einzigen Material zu entwerfen. Der aus gepresstem Aluminium gefertigte Stuhl erinnert nicht nur an die Formsperrholzstühle von Arne Jacobsen, Aino und Alvar Aalto oder Charles und Ray Eames, sondern auch an einen namenlosen Stuhl aus gepresstem Aluminium, den Gerrit T. Rietveld Anfang der 1940er Jahre entwarf.
“Stühle zum (Be)Sitzen” ist ein lohnenswerter Abstecher beim Besuch der Dauerausstellung des Grassi Museums für Angewandte Kunst und der Ausstellung “A Chair and You”.
Das sagen wir nicht einfach so, sondern weil man auf Stühlen sitzen muss, um den Sitzkomfort und die Stabilität wirklich wert zu schätzen.
Ein Stuhl kann einen ästhetisch ansprechen, aber wenn er nicht das richtige Sitzerlebnis bietet, ist er nicht der richtige Stuhl für einen.
Genau hier liegt ein Problem des Online-Möbelhandels und der Grund, warum es sinnvoll ist, die Vorteile des Online- und des Offline-Handels in einem ganzheitlichen, ansprechenden Erlebnis miteinander zu verbinden.
Hier zeigt sich auch ein Problem der Möbelmuseen und -ausstellungen.
Denn so sehr man in den Dauerausstellungen der Möbelmuseen die Entwicklung der Möbel und ihrer kulturellen und sozialen Kontexte nachvollziehen kann, so wenig kann man beurteilen, ob ein Stuhl tatsächlich bequem ist, ob man ihn benutzen möchte.
Die fehlende Interaktion fördert zudem eine rein visuelle Wertschätzung, so dass Funktionalität und Benutzerfreundlichkeit in den Hintergrund treten.
Nur drei der in “Stühle zum (Be)Sitzen” gezeigten Stühle sind in der Dauerausstellung des GRASSI zu sehen oder konnten am Tag unseres Besuchs gefunden werden. “Stühle zum (Be)Sitzen” ermöglicht es jedoch, die Geschichte des Stuhldesigns besser zu verstehen und Stühle als mehr als nur Objekte zu sehen und darauf zu sitzen.
Die Präsentation fördert somit ein Verständnis von Stühlen als Teil einer Reise durch die Beziehungen zwischen Individuum, Gesellschaft und ihren Gebrauchsgegenständen. Die für dieses Verständnis notwendige Erfahrung kann nur vermittelt werden, wenn man auf verschiedenen Stühlen sitzen kann, die in einem Kontext und in einem offenen Dialog miteinander stehen.
Und genau diese Möglichkeit bietet ein Möbelhaus.
“Stühle zum (Be)Sitzen” kann man kostenfrei im ersten Stock des GRASSI Museums für Angewandte Kunst, Johannisplatz 5-11, 04103 Leipzig besuchen.