1949 bemerkte Edgar Kaufmann Jr., der damalige Direktor der Abteilung für Industriedesign am Museum of Modern Art in New York: „Je mehr neue Stühle dem Käuferpublikum zur Verfügung stehen, desto verwirrender wird das Problem der Auswahl“. Eine Binsenweisheit, die über die Jahrzehnte nichts an Aktualität eingebüßt hat. Außerdem handelt es sich um eine schöne Beobachtung aus der Zeit des Aufstiegs der amerikanischen Möbeldesignindustrie nach dem Krieg 1939-45.
„Ist es wahr“, fragt Kaufmann im Kontext seiner Überlegungen, „dass unsere Bedürfnisse so vielfältig sind? "1
Das ist nur eine von vielen Fragen zu den Themen Stühle, Sitzen und Sitzenden, die in der Ausstellung “A Chair and You” im Grassi Museum für Angewandte Kunst, Leipzig, aufgeworfen werden.
Die Ausstellung “A Chair and You” hat ihren Ursprung in vielerlei Hinsicht in den 1990er Jahren, als der Schweizer Unternehmer Thierry Barbier-Müller begann, Stühle zu sammeln. Im Laufe der nächsten 30 Jahre wuchs seine Sammlung auf etwa 650 Stühle an. Gelegentlich waren Teile dieser Sammlung im Mudac, dem Musée cantonal de design et d'arts appliqués contemporains in Lausanne zu sehen - immer wenn das Museum Werke aus der Sammlung für seine Ausstellungen auslieh. Der Kontakt zwischen Thierry Barbier-Müller und dem Mudac führte ganz natürlich zu der Frage, ob es möglich sei, die Sammlung Barbier-Müller auszustellen. Chantal Prod'Hom, ehemalige Direktorin des Mudac und eine der Hauptpersonen bei der Entwicklung von “A Chair and You”, erklärt jedoch, dass eine einfache Präsentation der Stühle in Gruppen auf Sockeln von Anfang an nicht in Frage kam.
Dann kam Robert Wilson ins Gespräch, der vor allem als Theaterregisseur bekannt ist, dessen Schaffen aber auch Malerei, Bildhauerei, Lichtdesign, Bühnenbild usw. umfasst; und dessen Laufbahn mit einem Architekturstudium am Pratt Institute in Brooklyn begann. Robert Wilson kennt Thierry Barbier-Müller und seine Sammlung seit vielen Jahren. Wie bei der Eröffnung von “A Chair and You” zu erfahren war, hat Robert Wilson zudem ein persönliches Verhältnis zu Stühlen: Nicht nur, dass mehrere seiner Entwürfe in Barbier-Müllers Sammlung und in “A Chair and You” zu sehen sind, als Kind in Texas hat er nach eigener Aussage regelmäßig Stühle von der Wand, an der sie immer standen, weg in den Raum gestellt. Stühle, reflektiert Wilson, sind Linien, Formen und Farben im Raum.
Und genau das ist auch “A Chair and You”.
Ein Arrangement von Linien, Formen und Farben in einem Raum, dem sich Robert Wilson und sein Team so genähert haben, wie Wilson sich angeblich allen seinen künstlerischen Arbeiten nähert: mit detaillierten Überlegungen, zuerst zu Licht, Klang und Raum und dann, am Ende des Prozesses, zu den Objekten. Der Ansatz, mit dem Licht zu beginnen, geht auf eine Vorlesung des Architekten Louis Kahn während Wilsons Studienzeit in Brooklyn zurück. Dieser Prozess steht der üblichen Arbeitsweise von Museen und Kuratoren diametral entgegen, bei der meist das Objekt im Vordergrund steht, um das herum alle anderen Elemente konstruiert und definiert werden.
Wilson Ansatz bringt so nicht nur eine unkonventionelle Präsentation hervor, sondern schafft eine einzigartige Umgebung, in der man über Stühle, Sitzen und Sitzenden nachdenken kann.
Einzigartig in jedem Sinne und sinnlich einzigartig!
Angelegt als eine Abfolge von Räumen, ähnlich der räumlichen Konstruktion von Alices Reise durchs Wunderland ist “A Chair and You” ebenso sehr eine Installation von Robert Wilson wie eine Ausstellung. Es handelt sich um ein Zusammenspiel von Linien, Formen, Farben, Licht, Tönen und Emotionen, das einen von Szene zu Szene trägt. Die Beziehung zwischen Betrachter und Exponat wird dabei immer wieder neu definiert. Diese Choreographie der Räume wird zunächst immer dunkler, dann immer heller und endet mit einer Präsentation in der Orangerie, die gleichzeitig der hellste und dunkelste Raum von “A Chair and You” ist.
Zu sehen gibt es viele interessante und seltene Stühle: Die Sammlung Barbier-Müller besteht vor allem aus Kleinserien, Unikaten und Prototypen und enthält zahlreiche Positionen aus der Nachkriegszeit der Jahre 1939 bis 45, die nicht nur die etablierten Konventionen des Sitzens, sondern auch die Konventionen der funktionalen Moderne in Frage stellen.
Oder anders ausgedrückt: Es sind keine der omnipräsenten Höhepunkte der populären Möbeldesigngeschichte zu finden. All jene „Klassiker“, die in schweren Bildbänden und öden Social Media Feeds zu finden sind - die Standardausstattung der Designmuseen, fehlen hier. Es finden sich sehr interessante Arbeiten, man könnte sogar sagen, einige bahnbrechende Arbeiten, aber nichts, was man gemeinhin als Klassiker bezeichnen würde. So ist “A Chair and You” neben Horst Heyders EW 1192 in “Der ungesehene Designklassiker” im Deutschen Stuhlbaumuseum, Rabenau, eine weitere Einladung, über den sehr strapazierten Begriff Designklassiker nachzudenken.
Als Installation, als Choreographie, als Ausstellung ist “A Chair and You” frei von vielen Utensilien des Ausstellungsdesigns: Es gibt zum Beispiel keine Schilder zu lesen, keine Videos zu sehen, keine Tabellen zu verdauen, es gibt nicht einmal Namensschilder für die einzelnen Objektes2. “A Chair and You” ist vielmehr eine Einladung eine Beziehung zu einem Stuhl aufzubauen, zu ca. 140 Stühlen, über die man höchstwahrscheinlich nichts weiß. Es gibt keine externen Hilfsmittel zum Auffinden und Benennen, keine Spickzettel, mit denen man einen Dialog beginnen, keine Biographie, in die man sich vertiefen könnte. Es geht um einen Stuhl und Sie. Und das in einem Raum, der ebenso sensorisch stimulierend wie verwirrend ist. Wir können hier Bilder zeigen, aber es bleiben die Geräusche und das wechselnde Licht.
Und obwohl es sich um eine öffentliche Installation handelt, bietet jede einzelne Betrachtung eine einzigartige private, persönliche Erfahrung.
Wir haben mit einigen Stühlen viel Zeit verbracht. Der Do Hit Chair von Marijn Van der Poll aus dem Jahr 2000 ist ein glänzendes Beispiel dafür, warum Droog Design so wichtig ist: es handelt sich um eine Verformung des dimensionslosen Raums in eine Gebrauchsform, die viele Perspektiven auf die Beziehungen zwischen der menschlichen Gesellschaft und ihrer Umgebung eröffnet.
Grand confort, sans confort, dommage á Corbu von Stefan Zwicky ist im Wesentlichen ein LC2 Sessel von Le Corbusier, Pierre Jeanneret und Charlotte Perriand, gegossen aus Beton und Stahlstäben, der in seiner beständigen Unveränderlichkeit ein reizvoller Kommentar zur Musealisierung von Möbeln ist.
Isamu Noguchis „Pierced Seat“ ist wiederum ein Werk, das im Dark Space schwer auszumachen ist. Der Pierced Seat steht im Zusammenhang mit Noguchis Bühnenbildern für die Choreografin Martha Graham und wurde in der Isamu Noguchi Ausstellung im Museum Ludwig in Köln „das große verlorene Noguchi-Möbeldesign“ genannt.
Ettore Sottsass' Tappeto Volante ist ein Werk voller Humor, Respekt und Einfühlungsvermögen, das die Poesie verkörpert, zu der Sottsass fähig war und deutlich macht warum es falsch ist, ihn auf Memphis zu reduzieren.
Hiroko Shiratoris Discipline Chair ist ein Objekt, das die Kontrolle, die Selbstdisziplin und den aktiven Beitrag des Sitzenden erfordert, um als Stuhl zu funktionieren, und ermöglicht eine der freiesten und bequemsten Sitzerfahrungen, die man sich vorstellen kann.
Hiroko Shiratori ist nach unseren Berechnungen eine von nur etwa 10 Frauen unter den Designern der 140 präsentierten Werke. Wahrscheinlich, so schätzen wir, sind etwa 10% der vertretenen Designerinnen und Designer Frauen. Zahlen, die zum Nachdenken anregen und die Frage aufwerfen, warum das so ist. Ist das Verhältnis bei “A Chair and You” repräsentativ für die Sammlung oder ist die Auswahl für “A Chair and You” männlich geprägt? Über die Gründe können wir nur spekulieren. Wir vermuten aber, dass dieser Umstand weniger mit der Art und Weise zu tun hat, wie Thierry Barbier-Müller gesammelt hat, und eher mit dem Zugang zu Designgalerien und der Herstellung von Unikaten im Nachkriegseuropa zusammenhängt und diese widerspiegelt. Dieser Zugang war zwar leichter als der zur kommerziellen Industrie, aber über viele Jahre hinweg alles andere als gleichberechtigt.
“A Chair and You” ist eine in jeder Hinsicht theatralische Inszenierung für alle Sinne, außer für den Tastsinn. Es geht aber auch nicht darum, ein Erlebnis zu vermitteln, sondern Stühle als Erlebnis zu präsentieren: Die Stühle stehen immer im Zentrum des Geschehens, und wurden von Robert Wilson und seinem Team in Licht, Klänge und Raum eingebettet. Hinzu kommt ein klassisch theatralischer Einsatz von Rauch und Spiegeln, um zusätzliche Schichten in die Aufführung einzubauen und ihr eine spürbare Spannung zu verleihen.
Die Inszenierung nimmt sich dabei selbst nicht allzu ernst und lässt erkennen, dass sie bei aller Kunstfertigkeit weiß, dass es wichtigere Dinge im Leben gibt als die Ausübung dieser Kunst. Die Ausstellung spielt offen mit der Selbstverliebtheit der Möbelindustrie, der Architekten und Designer, der Kunsthistoriker und Kritiker. Genauso wie viele der Werke subtil, geschickt, frech und/oder offensichtlich mit den Themen und Positionen der funktionalistischen Moderne spielen, einer Epoche, die in vielen Kreisen immer noch als heilig gilt, obwohl ihre Fehlgriffe imme augenscheinlicher werden.
Wenn man die Selbstverliebtheit, die Verspieltheit, die Lichter, die Klänge, die Räume, die Show einmal hinter sich gelassen hat, entpuppt sich die Ausstellung als eine sehr rationale und nüchterne Präsentation, die es einem ermöglicht, ja abverlangt, Räume voller Stühle aufmerksamer und umsichtiger zu betrachten, als man es wohl je getan hat. Der Besucher kann den Diskursen und Debatten zwischen den Stühlen in diesen Räumen lauschen, den immer wiederkehrenden Materialien und Konstruktionen folgen und über die Analogien in Bezug auf Herangehensweise und Konzeption reflektieren. Viele Werke greifen bestimmte Themen auf, wie beispielsweise Widerstand und Trotz. Es gibt Stühle, die aktiv verhindern, dass man sich auf sie setzt; Stühle, die mit der intimen physischen Beziehung zwischen Sitzen und Sitzendem spielen, oder das Thema Macht reflektieren. Schließlich ist der Stuhl, allen voran der Thron, seit langem ein Symbol der Macht.
In vielerlei Hinsicht sind unsere Bedürfnisse alle gleich und werden 2024 genau dieselben sein wie 1949: Wasser, Essen, Liebe, Punkrock.
Aber die Gesellschaft ist komplizierter geworden: Das Amerika der späten 1940er Jahre erscheint im sozialen und kulturellen Rückspiegel als eine erstaunlich einfache Gesellschaft, fast unmöglich verglichen mit der verflochtenen, vielschichtigen und in sich instabilen Gesellschaft des frühen 21. Jahrhunderts.
Und während die Gesellschaft immer komplizierter wurde, waren Stühle unsere allgegenwärtigen Chronisten. Während jedoch in den vergangenen Jahrhunderten die Welten, in denen Stühle funktionieren sollten, durch eine begrenzte Anzahl von diskreten Parametern und Ebenen definiert waren, und damit auch die „Funktion“ definiert war, ist dies heute nicht mehr der Fall. Was ist heute die „Funktion“ eines Stuhls?
Diese Frage wurde bereits in den 1960er Jahren gestellt, und viele der ersten Arbeiten von Thierry Barbier-Müller stammen aus dieser Zeit; eine Frage, die seither von Designern immer wieder erweitert, verfeinert, hinterfragt und neu formuliert wurde.
Wenn ein Edgar Kaufmann Jr. mit all seiner Erfahrung und seinem Wissen die Dinge 1949 als verwirrend empfunden hat, dann wäre er heute wahrscheinlich verloren.
Denn wir leben in einer Zeit, in der Stühle nur noch selten in erster Linie eine physische Form sind. Thierry Barbier-Müller würde das verstehen, das sieht man an seiner Sammlung. Auch Robert Wilson würde es verstehen, denn seine Installation zeigt, dass Stühle zweifellos Linien, Formen und Farben im Raum sind, aber Wilson weiß, dass das nicht die ganze Geschichte ist, es gibt noch viel mehr.
“A Chair and You” ist ein Wunderland, ein Durcheinander von Klang, Licht und Raum, das einen vielschichtigen Dialog zwischen disparaten Objekten erzeugt. Die Ausstellung lädt dazu ein über die unzähligen komplexen Beziehungen zwischen dem, worauf wir sitzen, dem Akt des Sitzens und den materiellen und immateriellen Räumen, in denen wir sitzen, nachzudenken.
“A Chair and You” ist noch bis Sonntag, 6. Oktober, im Grassi Museum für Angewandte Kunst, Johannisplatz 5-11, 04103 Leipzig zu sehen.
Alle Details finden Sie unter www.grassimak.de.
Darüber hinaus ist mit The Spirit of the Chair ein reich bebilderter zweisprachiger Katalog zur Sammlung Thierry Barbier-Müller im Lars Müller Verlag, Zürich, erschienen.
1Edgar Kaufmann Jr., The Profusion of chairs: Four simple rules guide buyers faced with perplexing choice, New York Times, September 25th 1949, page XX13
2There is however a small booklet which lists all the works, much as a theatre and opera programme provides the necessary background information to that which on the stage unfolds