Dorothee Becker wurde am 30. März 1938 im bayrischen Aschaffenburg geboren. Die Familie ihrer Mutter betrieb eine Metzgerei, während ihr Vater eine Drogerie führte. Sie verlebte eine glückliche und behagliche Kindheit an der bayerisch-hessischen Grenze. Nach dem Abschluss des Gymnasiums schrieb sie sich in Frankfurt und München ein, studierte vor allem Anglistik und Amerikanistik, erwarb jedoch keinen formalen Abschluss. In München lernte Becker den jungen Grafikdesigner Ingo Maurer kennen, den sie heiratete. Gemeinsam lebten und arbeiteten sie Anfang der 1960er Jahre ein Jahr lang in San Francisco, bevor sie nach Deutschland zurückkehrten. Mitte der 1960er Jahre gründete Dorothee Becker dort die Designfirma Design M als Plattform für Ingo Maurers Entwürfe, insbesondere für seine neuerdings dreidimensionalen Entwürfe und seine Lampendesigns. Diese Firma fand bereits in der Ausstellung "Ingo Maurer intim. Design or what?" im Design Museum München Erwähnung ohne dass dabei auf Dorothee Beckers Beitrag eingegangen wurde.
Es sei angemerkt, dass Maurer und Becker sich Mitte der 1960er bis Ende der 1960er Jahre trennten, und dass diese Trennung nicht besonders freundschaftlich verlief. Das geht aus Beckers persönlichem Nachlass hervor.
1976 gründete Dorothee Becker, mittlerweile alleinerziehende Mutter zweier (fast) pubertierender Töchter, das Designgeschäft Utensilo in der Herzogstraße im Münchner Stadtteil Schwabingen. Diese Entscheidung vollzog Becker in der Tradition ihrer Familie und als Antwort auf ihre ökonomischen Umstände. Neben ihren eigenen Entwürfen verkaufte sie dort auch Arbeiten anderer, die sie als "gute brauchbare Sachen" betrachtete und keineswegs als "Schnickschnack". Sie betonte: "Ich hasse Schnickschnack... die Sachen sollten brauchbar sein: gut und sympathisch aussehen". Oder wie es auf der Karte von Utensilo hieß: praktisch & schön. Wie aus ihrem persönlichen Nachlass hervorgeht, widmete sich Becker mit schöpferischer Freude und Energie der Schaufensterdekoration des Utensilo-Geschäfts. Das Schaufenster wurde zum Ausdruck ihrer Leidenschaft für gutes Design, Ästhetik und die Natur.
Das Utensilo-Logo, eine Grille, spiegelte Beckers Bewunderung für die Natur wider. Sie ließ sich von der natürlichen Welt inspirieren und integrierte sie in ihre Werke.
Becker engagierte sich in den 1980er Jahren aktiv in der Umweltschutz- und Anti-Atomkraft-Bewegung. Sie kämpfte erfolgreich dagegen, dass ihre Töchter im Bayern der 1970er Jahre am obligatorischen Näh- und Handarbeitsunterricht für Mädchen teilnehmen mussten und stattdessen den Schreinerunterricht zusammen mit den Jungen besuchen durften. Obwohl sie selbst mit Textilien arbeitete, war sie sich der geschlechtsspezifischen Trennung in der kreativen Praxis bewusst und kämpfte dagegen an. Diese Problematik besteht in der zeitgenössischen Möbelindustrie noch immer.
Beckers Aktivismus war in seinen verschiedenen Formen eine direkte Folge ihres Lebens im Kontext der sozialen, kulturellen und politischen Herausforderungen der späten 1960er Jahre.
1989 schloss Becker Utensilo aus Gründen, die nicht genau bekannt sind, und widmete sich verschiedenen, größtenteils privaten kreativen Tätigkeiten, darunter auch die Gestaltung von Teppichen. Sie war nicht grundsätzlich dagegen, dass Frauen Textilien herstellen, sondern wandte sich gegen die geschlechtsspezifische Beschränkung auf bestimmte kreative Bereiche. Dorothee Becker ist am 29. April 2023 im Alter von 85 Jahren gestorben.
Die Zusammenstellung und Anordnung der Ausstellung wurde von Claude Maurer, der Tochter von Dorothee Becker und Ingo Maurer, gemeinsam mit Claude Maurers Partner Frank Koschembar ermöglicht. Sie bietet einen kurzen Einblick in die vielfältigen und unterschiedlichen Ausdrucksformen von Dorothee Beckers kreativem Schaffen, mit Beispielen ihrer Arbeiten in den Bereichen Beleuchtung, Textilien, Grafik und Produktdesign und vermittelt den Eindruck, dass es noch viel mehr zu entdecken gibt. Die Präsentation erlaubt es trotz ihrer Kürze den bekanntesten und wohl kommerziell einzigen erfolgreichen Entwurf von Becker, das Aufbewahrungssystem Utensilo, das ursprünglich in den späten 1960er Jahren von Design M herausgebracht und dann von Vitra neu aufgelegt wurde, in den Kontext ihres Gesamtwerks zu stellen und gewährt darüber hinaus Einblicke in die Entstehungsgeschichte. Man kann nachvollziehen, wie aus einem hölzernen Kinderpuzzle, einem Spielzeug, das dazu beiträgt, Kreativität, Neugierde, Motorik und Raumvorstellung zu fördern, ein Organizer für Erwachsene und Kinder gleichermaßen wurde. Im Grunde genommen funktioniert beides auf die gleiche Art: Es muss entschieden werden, was wohin gehört, wobei die Gegenstände nicht genau an einen Ort passen müssen. Das ursprüngliche Holzpuzzle existiert derzeit nur auf einem Foto, bestätigt aber die physischen, formalen und grafischen Ähnlichkeiten mit dem Utensilo-Aufbewahrungssystem. Die Ausstellung ermöglicht auch eine Annäherung an die Person Dorothee Becker (nicht nur die der kreativen Dorothee Becker), indem sie ihren Aktivismus und ihre Kämpfe, als auch ihre Positionen zum Feminismus zur Kenntnis nimmt: "Ich bin selbstverständlich eine Feministin", verkündete sie in einem Interview aus dem Jahr 2010, und fuhr fort, dass "ich nicht nur die gleichen Rechte, sondern auch die gleichen Lebenschancen, verlange"2. Trotz ihrer Kürze lässt die Präsentation eine Ahnung aufkommen, warum Dorothee Becker heute so unbekannt ist und auf ein Produkt reduziert wird. Neben vielen anderen Gründen gibt es einen Grund, der häufig dazu führt, dass weibliche Kreative unbekannt bleiben: Niemand erfasst ihren Beitrag zu Werken, die nur mit dem weitaus bekannteren Ehemann in Verbindung gebracht werden. Im Zusammenhang mit Lucia Moholy und László Moholy-Nagy wurde in der Ausstellung “Das Bild der Moderne” im Bröhan-Museum darüber bercihtet, dass Lucia zwar zweifellos zu vielen frühen Experimenten und Projekten von László beigetragen hat, dass aber niemand diese Beiträge dokumentiert hat hat. Niemand hat detaillierte Notizen gemacht. Es gibt keine tatsächliche physische Erinnerung daran, was unternommen und besprochen wurde, sodass später nur László der bekannte Name wurde. “Aus dem persönlichen Nachlass" erlaubt es, gewisse Parallelen zu Luicia und László zu ziehen. Für exakte Parallelen haben wir viel zu wenig Informationen, aber die Ausstellung impliziert sehr wohl, dass Maurers Werke in den 1960er und frühen 1970er Jahren im Gespräch mit Dorothee Becker und mit ihrem Input entstanden sind. In welchem Grad das geschehen ist, ist jedoch nicht festgehalten. Es gibt auch gemeinsame Projekte wie, zum Beispiel die genannte Scherenlampe, eine Arbeit, die erstmals 1968 bei Design M erschien und in der Ausstellung "Aus dem persönlichen Nachlass" sowohl in der Tisch- als auch in der Wandversion zu sehen ist. Diese Arbeit ist auch im Katalog "Ingo Maurer intim" erfasst und wird dort als gemeinsames Produkt von Becker und Maurer geführt. "Aus dem persönlichen Nachlass" deutet an, dass es noch mehr solcher Projekte geben könnte. Gleichzeitig macht die Ausstellung klar, dass wir es wahrscheinlich nie erfahren werden. Beckers Status als alleinerziehende Mutter im Bayern der 1970er Jahre wird darüber hinaus ihre weitere kreative Laufbahn stark beeinträchtigt und behindert haben, und das in einer Zeit, in der sie gerade anfing, richtig in Fahrt zu kommen. Auch wenn die 1970er Jahre oft als eine fortschrittliche, ja sogar aufgeklärte Zeit gelten, waren sie in Sachen Gleichberechtigung der Geschlechter gar nicht so weit von den 1860er und 1870er Jahren entfernt, wie Dorothee Becker verdeutlicht - Mädchen nähen, Jungen tischlern. Viele weibliche Kreative kannte diese Situation und viele kennen sie noch heute: Die eigene Karriere muss unterbrochen werden, um sich auf die Kinderbetreuung zu konzentrieren, oder die Mutterschaft wird der beruflichen Laufbahn geopfert, im Wissen um die Konsequenzen. Dorothee Becker war sich diesem Umstand bewusst, wie das bereits erwähnte Zitat von 2010 in voller Länge zeigt: "Ich möchte nicht nur die gleichen Rechte, sondern auch die gleichen Lebenschancen, verlange. Und das ist auch heute noch nicht gegeben".
Soweit wir wissen, wird “Aus dem persönlichen Nachlass” eine einmalige Präsentation bleiben: aber wir hoffen, dass jemand Claude Maurer und Frank Koschembar davon überzeugen kann, die Präsentation neu zu gestalten oder als Grundlage für ein größeres Projekt zu verwenden. Sicher wird das eine oder andere Museum bei einem ehrlichen Blick in die Archive das eine oder andere Objekt finden, das mit Verweis auf und Informationen aus dem persönlichen Nachlass korrekter zugeordnet werden könnte. So könnte ein Beitrag zu einer umfassenderen Würdigung der Gestalterin Dorothee Becker geleistet werden. Durch die Präsentation von Arbeiten aus allen Genres und Perioden ihres Schaffens und durch die Erläuterung ihrer Rolle bei der Entwicklung von Design M ermöglicht es die Ausstellung "Aus dem persönlichen Nachlass", dass Dorothee Becker beginnt aus der Anonymität aufzutauchen, sich über das Uten.silo hinaus zu bewegen und ihren Platz in der Designgeschichte wieder einzunehmen. "Aus dem persönlichen Nachlass" wurde vom Freitag, den 12. Januar bis Donnerstag, den 18. Januar im Rahmen der Passagen Interior Design Week Cologne 2024 im Raum für Reflexion, Aquinostraße 13, 50670 Köln, präsentiert.
1Wie zitiert in aus dem persönlichen Nachlass. Der Hinweis wurde als Kapitel von Dr. Martina Fineder in dem Buch Ästhetische Politik in der Mode, Elke Gaugele [Hrsg.], 2014, angegeben, wir können die Zitate in diesem Buch jedoch nicht finden und vermuten, dass sie tatsächlich aus einem unveröffentlichten Interview von Fineder mit Becker stammen, auf dem das Kapitel basiert. Oder wir sind einfach nur extrem doof. Noch dümmer als sonst. Wir sind auf der Spur und werden Sie auf dem Laufenden halten, sobald wir mehr wissen.
2Zitiert in Aus dem persönlichen Nachlass. Unveröffentlichtes Interview mit Dorothee Becker aus dem Jahr 2010, geführt von Dr. Martina Fineder.