Das Design stand in Frankreich in den 1880er Jahren an der Schwelle zum Jugendstil. Leute wie Louis Majorelle, Émile Gallé oder Hector Guimard begannen die Herstellung und den formalen Ausdruck unserer Gebrauchsgegenstände, sowie unsere Beziehungen zu ihnen in Frage zu stellen. Diese Entwicklung verlief vor dem Hintergrund der frühen Jahre der Dritten Republik und der rasch voranschreitenden Industrialisierung mit all den dazugehörigen sozialen, wirtschaftlichen, technischen und politischen Entwicklungen dieser Zeit.
Und das Design im Frankreich der 1980er Jahre?
Mit der Ausstellung “Années 80. Mode, design et graphisme en France”, auf deutsch “Die 80er Jahre. Mode, Design und Grafik in Frankreich” lässt das Musée des Arts décoratifs, Paris, dieses junge, aber irgendwie doch sehr ferne Jahrzehnt mit Blick auf seinen kreativen Output Revue passieren.
“Années 80. Mode, design et graphisme en France”, Musée des Arts décoratifs, Paris
Am Eingang zu “Années 80. Mode, design et graphisme en France” wird man von François Mitterrand auf einem Wahlkampfplakat für die französischen Präsidentschaftswahlen 1981 begrüßt. Das Porträt zeigt Mitterrand, der sich selbst als “La force tranquille” anpreist. Was an sich schon mehr als nur ein wenig verwirrend ist: ruhig, gelassen, friedlich sind keine Adjektive, die man normalerweise mit den 1980er Jahren in Verbindung bringt, schon gar nicht mit Kreativität in den 1980er Jahren. Sie stehen auch nicht unbedingt für das, was man im Musée des Arts décoratifs zu sehen erwartet. Man rechnet vielleicht mit “la force brut, tumultueux, excessif, frivole, éclatant”, aber nicht mit “tranquille”.
Während man so also über diese Gegenüberstellung nachdenkt, kommt man an François Mitterrand vorbei und betritt die ersten Kapitel von “Années 80”, die sich vor allem mit den Verbindungen zwischen den Kreativen der 1980er Jahre und der bürgerlichen Gesellschaft der 1980er Jahre befassen. Hier geht es um die Art und Weise, in der französische Politiker, Institutionen und öffentliche Einrichtungen die Talente einer aufstrebenden Generation junger französischer Kreativer nutzten. Indem sie die Positionen einer aufstrebenden Generation junger französischer Kreativer förderten, förderten sie sich selbst und brachten sich selbst voran.
Dieses Thema wird in der Ausstellung vor allem im Zusammenhang mit der Grafik, die auch im Ausstellungstitel vertreten ist, erörtert und erforscht. Hinzu kommen zahlreiche andere Projekten: die Corporate Identities für das Musée du Louvre, das Musée d'Orsay oder das Centre national des arts plastiques, die vom Kollektiv Grapus entwickelt wurden; Plakate für verschiedene Organisationen und Kampagnen von Künstlern wie Speedy Graphito, Roman Cieslewicz oder Michel Quarez: die bereits erwähnte Kampagne La force tranquille von Agence RSCG. Aber auch Möbel, insbesondere Möbel für die Privatwohnung des Élysée-Palastes, darunter Arbeiten von Annie Tribel, Marc Held oder Philippe Starck..
1979 rief die französische Regierung die Plattform Valorisation de l'innovation dans l'ameublement (VIA) ins Leben, die den Austausch zwischen Designern und der Möbelindustrie erleichtern soll und die im Rahmen dieser Aufgabe so genannte Cartes Blanches, also Stipendien, an junge Designer vergibt, damit diese Projekte frei von kommerziellen Zwängen entwickeln können. Frei von dem also, was Rolf Fehlbaum einmal treffend als "unbarmherzige Zensur aller Ideen"1 bezeichnete: Zu den ersten Carte Blanche-Empfängerinnen und -Empfängern gehörten Namen wie Martin Szekely, Jean-Michel Wilmotte oder Philippe Starck. Später kamen Kreative wie unter anderem Inga Sempé, Matali Crasset, Pierre Charpin und Ronan Bouroullec hinzu.
In der Ausstellung führt die Plattform VIA zum Kapitel “Effervescent Design”, was so viel bedeutet wie “sprudelndes Design”. Dieses Kapitel stellt neben Werken von Carte Blanche-Empfängern und -Empfängerinnen wie François Bauchet, Pascal Mourgue oder Jean-Charles de Castelbajac auch Christian Lacroix und Jean Paul Gaultier vor, die beiden rasant aufsteigenden Stars des französischen Bekleidungsdesigns der 1980er Jahre2. Jean Paul Gaultier, ebenfalls ein VIA Carte Blanche-Absolvent, entwickelte im Rahmen des Programms eine Kollektion von heute weitgehend unbekannten Möbelentwürfen. Das passierete allerdings in den 90er Jahren - hoffentlich ist die Ausstellung zu diesem Jahrzehnt schon in der Entwicklung.
“Effervescent Design” präsentiert Arbeiten von französischen als auch von nicht-französischen Designern: Obwohl die Franzosen bekanntermaßen alles Französische sehr schützen, sind in diesem Ausstellungskapitel zahlreiche internationale Designer vertreten, darunter Shirō Kuramata, Ettore Sottsass oder Tom Dixon. Der Austausch von Positionen, Ansätzen und Ausdrucksformen innerhalb einer internationalen kreativen Gemeinschaft bestand zwar schon seit Jahrhunderten, aber erst in den 1980er Jahren wurde er zu einer Selbstverständlichkeit, die man offen zelebrierte und nach außen trug.
Obwohl “Années 80” zweifellos in Frankreich angesiedelt ist, handelt es sich also um eine internationale Ausstellung.
Eine internationale Ausstellung mit Sitz in Frankreich.
Der Bezug zu Frankreich wird durch die Tatsache unterstrichen, dass die in der Ausstellung vertretenen internationalen Kreativen fest im Kontext französischer Designgalerien verankert sind. Zu diesen Galerien gehören beispielsweise die Galerie Nestor Perkal, die Galerie En Attendant les Barbares oder die Galerie Néotù. Erfreulicherweise nehmen diese Galerien einen sehr prominenten Platz im Ausstellungskonzept von “Années 80” ein. So wird deutlich, dass sich in den 80er Jahren ein Prozess vollzog, in dem Designer die in den 1960er Jahren begonnenen Positionen wieder aufnahmen und begannen, weniger für die Industrie, und mehr als Ausdruck ihrer eigenen Positionen zu arbeiten. Design trug so zunehmend zu zeitgenössischen Diskursen bei und begann sich weniger mit Objekten zu befassen, die en masse produziert werden sollen. Außerdem ist die Bedeutung der Galerien in den 80er Jahren ein Hinweis auf ihre herausragende Rolle bei der Verbreitung von Design in dieser Zeit. Die Galerien wurden in den 1980er Jahren sehr relevant und sind es heute noch immer.
Ebenso erfreulich ist, wie das Kapitel “Effervescent Design” bewusst Bekleidungsdesign mit Möbel-, Objekt- und Innendesign mischt. Neben den bereits erwähnten Christian Lacroix und Jean Paul Gaultier findet man auch Arbeiten von beispielsweise Issey Miyake, Popy Moreni, Claude Montana oder Vivienne Westwood. Diese Mischung, die sich durch die gesamte Ausstellung zieht, ist eines der bestimmenden Merkmale des Ausstellungskonzepts. Eine gute Entscheidung, denn in keinem Rückblick eines bestimmten Jahrzehnts sollten die verschiedenen Designgattungen voneinander getrennt werden, da sie immer miteinander verbundene und voneinander abhängige Bestandteile derselben Diskurse, Entwicklungen und Gesellschaften sind.
Das gilt auch für die Musik.
Musik steht zwar nicht im Titel der Ausstellung, ist aber in ”Années 80” genauso präsent wie in den 80er Jahren.
Die Musik der Années 80 wird unter anderem durch eine Auswahl von Musikvideos französischer Künstler repräsentiert. Schließlich waren die 1980er Jahre das Jahrzehnt von MTV und dem Aufkommen des Musikvideos. Hinzu kommt eine Präsentation von Fanzines, jenen analogen Netzwerken und Förderern der Underground-Musik, die sehr wichtig waren, um vielen jungen Bands eine Plattform und Sichtbarkeit zu geben. Zu sehen sind außerdem Konzertplakate, vor allem Plakate der immer fröhlichen Loulou Picasso für Konzerte im Pariser Nachtclub Bains-Douches von Bands wie z.B. von R.E.M, Joy Division, Gina X oder Funkapolitan.
Die letzten Kapitel von “Années 80” machen deutlich, dass in den 1980er Jahren in großem Umfang auf vergangene Zeiten Bezug genommen und diese neu inszeniert wurden, einschließlich der Jahrzehnte zwischen den Kriegen des 17. und 18. Jahrhunderts. Das schließt auch die Wiederbelebung der Pariser Haute Couture in den 1980er Jahren ein, wie es in Années 80 durch Werke von z. B. Hubert de Givenchy, Karl Lagerfeld, Yves Saint Laurent, Pierre Cardin oder Erik Mortensen erforscht wird.
Andererseits sind in den 1980er Jahren neue Tendenzen zu beobachten, wie sie beispielsweise in den Werken einer Rei Kawakubo zum Ausdruck kommen. Es gibt neue Positionen im Bereich der Herrenmode und neue Produktions- und Vertriebssysteme, dazu gehören zum Beispiel Agnes B, NAF oder die Versandhauskollektionen für Les 3 Suisses von so unterschiedlichen Designern und Designerinnen wie Issey Miyake, Èlisabeth de Senneville oder Popy Moreni. Auch Philippe Starck designte zahlreiche Möbelstücke für Le 3 Suisses, darunter den knienden Stuhl Mister Bliss, ein Werk von 1984.
Hier handelt es sich nur um eines von mehreren Möbelobjekten, die über die Bekleidungskapitel verstreut sind, darunter Werke von Nemo, Marie-Christine Dorner, Andrée Putman oder Eileen Grey.
“Années 80” widerspricht dem auf ein paar einfache Tropen verdichtetem, gängigen Bild der 1980er Jahre und ermöglicht neue Perspektiven auf das Jahrzehnt. So wird eine Neujustierung und eine Erweiterung der Diskussion möglich, die nicht nur eine gezielte Betrachtung des "Was", sondern auch des "Wie", "Warum" und "Wozu" mit einschließt.
Auf diese Weise kann man erkennen, dass in den 1980er Jahren zwar zweifellos brutale, tumultartige, exzessive, frivole und strahlende Kräfte am Werk waren, dass es aber auch ruhigere Töne gab: Bei aller Überschwänglichkeit, Dekadenz und Frechheit, die in den 1980er Jahren zur Schau gestellt wurden - und davon gibt es eine ganze Menge -, gab es auch eine ganze Menge Reduktion, Rationalisierung und Zurückhaltung. Und das oft innerhalb der überschwänglichen, dekadenten und frechen Werke. In vielen Werken findet sich außerdem auch eine Menge sorgfältiger, kontrollierter, überlegter Praxis. Es gibt viele fundierte Ansätze, um etablierte Prozesse neu zu entwickeln und eine Menge hochqualifiziertes Handwerk in ungewohnten Kontexten - sehr viel Evolution also statt Revolution.
Nicht nur Frankreich, sondern ganz Europa stand in den 1980er Jahren an der Schwelle zu großen Umwälzungen. Das brachte eine Menge offene Fragen und viel Unbekanntes mit sich, in das sich Kreative aller Couleur stürzten - sehr zur Verachtung und zum Spott der Vertreter von etablierten Konventionen, Normen und Praktiken.
Bis jetzt, so würden wir argumentieren, waren die 1980er Jahre zu nah, um richtig, nüchtern und objektiv betrachtet zu werden. Inzwischen jedoch gewinnen wir ansatzweise den nötigen Abstand.
Diese Entwicklung wird durch die Ausstellung sehr schön unterstrichen: Noch vor wenigen Jahren wäre “Années 80” wahrscheinlich eine unerträgliche Kakophonie von Formen, Farben und Materialien gewesen. Es hätte sich womöglich um eine oberflächliche Übung in Objektivierung und um den Versuch, einen "Stil" zu definieren, gehandelt.
Heute analysiert “Années 80”, wie sich das Design von den 1980er Jahren an in ein kommendes Unbekanntes bewegte und erläutert Positionen, Ansätze und Motivationen dieser Zeit. Die Ausstellung liefert eine Aufzählung von Diskursen und Argumenten und ist somit eine sehr willkommene Einladung, sich ein sachliches Verständnis des Designs der 1980er Jahre anzueignen. Zwar ist diese Einladung im Frankreich der 1980er Jahre angesiedelt, aber das Konzept der Ausstellung macht eine Extrapolation auf europäische Kontexte relativ einfach.3
Durch ein besseres Verständnis des Designs der 1980er Jahre, kann man auch die seitdem eingeschlagenen Wege und die anhaltende Relevanz und das Vermächtnis der 1980er Jahre im zeitgenössischen Design besser einschätzen. So wird eine differenzierte Reflexion darüber, wo wir in unserer eigenen Zeit stehen, möglich. Schließlich machen wir uns momentan im Kontext einer dringend notwendigen Hinterfragung der Produktion, des formalen Ausdrucks und der Beziehungen zu unseren Gebrauchsgegenständen, selbst auf den Weg in ein großes, kommendes Unbekanntes.
In eine Zukunft, die nur selten so unbekannt und so unsicher war.
Über die durch die Präsentation angeregten Überlegungen zu den 1980er Jahren hinaus wird der Besucher ermuntert, die ausgestellten Werke aus nächster Nähe zu betrachten. Neben vielen bekannten Objekten gibt es erfreulicherweise auch viele selten gesehene, charmante, kommunikative, kultivierte und frivole Objekte, mit denen man sich beschäftigen kann.
Eine breite Palette von Werken aus verschiedenen Genres, die zur Einsicht führen, dass das Modedesign in und aus Frankreich zwar oft als Maßstab für andere gilt, dies aber nicht unbedingt für alle Designgenres zutreffend ist.
“Années 80” ist aber auch eine Ermahnung, sich ernsthafter mit dem Design aller Genres der 1980er Jahre zu beschäftigen, unabhängig von der geografischen Herkunft. Es ist an der Zeit, das Design der 1980er Jahre nicht mehr in Schubladen zu stecken und zu stereotypisieren.
“Années 80. Mode, design et graphisme en France” ist noch bis Sonntag, den 16. April im Musée des Arts décoratifs, 107-111, rue de Rivoli, 75001 Paris zu sehen.
Ausführliche Informationen, unter anderem zu Öffnungszeiten, Eintrittspreisen, aktuellen Hygieneregeln und Details zum Rahmenprogramm, finden Sie unter https://madparis.fr/.
1Rolf Fehlbaum, Ein Projekt mit ungewissen Ausgang, in Uta Brandes; Alexander von Vegesack [Hrsg.], Bürgerbüro: Ideen und Notizen zu einer neuen Bürowelt, Steidl Verlag, Göttingen, 1994
2Nur zur Klarstellung....Mode und Design stehen im Gegensatz zueinander, daher ist der populär verwendete Begriff "Modedesign" ein Oxymoron, es ist entweder Mode oder Design. Der korrektere Begriff, jedenfalls in unserem Sinne, ist Bekleidungsdesign, wie auch Möbeldesign, Lichtdesign, Innenraumdesign, Bühnendesign, Spielzeugdesign usw. usw.
3Wir sprechen ganz bewusst von Frankreich und Europa, denn auch wenn es immer wieder globale Entwicklungen gab, wäre es selbst für uns eine zu starke Verallgemeinerung zu behaupten, dass das, was in Frankreich passiert, überall passiert. Innerhalb Europas befinden wir uns jedoch auf ziemlich sicherem Boden.