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Konstantin Grcic. "New Normals" im Haus am Waldsee, Berlin


Veröffentlicht am 22.03.2022

So vertraut unsere Gegenstände und Rituale des täglichen Lebens uns auch sind, einer Person aus dem 16. Jahrhundert würden sie höchst seltsam erscheinen. Die Gegenstände und Rituale des 16. Jahrhundert würden wiederum jemandem aus dem 11. Jahrhundert höchst seltsam erscheinen. Doch mit den Worten Simon & Garfunkels: "that's not unusual, No, it isn't strange" - denn wenn sich Gesellschaften entwickeln, eignen sie sich neue Gegenstände und Rituale an. Das tägliche Leben entwickelt sich in Verbindung mit diesen ständig weiter. Auch uns würden also Gegenstände und Rituale aus der Zukunft ebenso verwundern.

In seiner Ausstellung “New Normals” im Haus am Waldsee, Berlin, stellt uns Konstantin Grcic einige äußerst merkwürdige Dinge vor. Er lädt uns ein, darüber nachzudenken, dass das, was noch nicht ist, eines Tages sein wird...

Konstantin Grcic. New Normals, Haus am Waldsee, Berlin
Konstantin Grcic. "New Normals", Haus am Waldsee, Berlin

“New Normals” ist zwar ein Begriff, der sehr stark mit der Covid-Pandemie assoziiert wird, aber, wie Konstantin Grcic betont, in der Ausstellung “New Normals” geht es nicht um die Pandemie. Vielmehr handelt es sich um eine Ausstellung, deren Entwicklung in der Pandemie begann, aber zu einer Zeit, als noch alle davon ausgingen, dass die Sache im Januar 2022 hinter uns liegen würde. Dementsprechend sollte es sich um eine Ausstellung handeln, die ihren Ursprung weniger in der neuen Normalität der Gesichtsmasken und Schnelltests hat, sondern in allgemeineren Objekten und Ritualen, die zunächst fremd oder befremdlich erscheinen, sich dann aber schnell als ganz normal etablieren. Grcic nennt dafür Beispiele wie städtische Überwachungskameras oder Smartphones. Dieses Phänomen des neuen Normalen, des Vertrautwerdens mit dem Neuen wollte Konstantin Grcic genauer erforschen und ließ sich dabei von seinen eigenen Entwürfe leiten.

Das Ergebnis ist eine Präsentation mit etwa 20 von Grcics Entwürfen, die eine Transformation, eine Verfremdung erfahren haben. Mal geschieht das durch Hinzufügungen, mal durch Abstraktionen, mal durch neue Assoziationen, mal durch neue Kontexte. Die Objekte können dadurch auf etwas anderes verweisen, oder werfen Fragen auf, die einem helfen, sich eine Vorstellung von dem Verlauf von der gegenwärtigen Normalität zu einer neuen Normalität zu machen. Dabei geht es nicht darum diese Bewegung zu demonstrieren oder die Richtung dieser Bewegung vorwegzunehmen.

Ein oder zwei Beispiele wären wahrscheinlich hilfreich um diesen Gedankengang zu verdeutlichen.

Konstantin Grcic. New Normals, Haus am Waldsee, Berlin
Konstantin Grcic. "New Normals", Haus am Waldsee, Berlin

Laut Konstantin Grcic war eines der frühesten Bilder, das ihm bei der Entwicklung der Ausstellung einfiel, das seines Vitra Stool-Tools mit der daran befestigten Antenne. Dieses Bild begrüßt die BesucherInnen im Wintergarten des Haus’ am Waldsee.

Warum hat der Hocker Stool-Tool eine Antenne? Eine sehr gute Frage, ebenso wie die Frage, warum Stool-Tool eine Antenne brauchen könnte? Was ermöglichen Antennen auf einem Hocker? Wie verändert die Antenne und das, was sie ermöglicht und verkörpert, die Art und Weise, wie man Stool-Tool benutzt? Wie verändert die Antennen unsere Beziehung zu dem Vitra Hocker? Ist der Stool-Tool mit Antenne immer noch ein Stool-Tool?

Konstantin Grcic gibt keine Antworten auf diese Fragen und stellt auch keine Fragen, die zu möglichen Antworten führen könnten. Die Formulierung von Fragen und die anschließende Hinterfragung auf der Suche nach möglichen Antworten bleibt ganz den BesucherInnen überlassen, der sich auf ihre eigene Weise mit den Vorschlägen auseinandersetzen und eigenen Gedankengängen folgen können.

Gedanken wie der, dass ein Stool-Tool mit Antennen sehr stark an einen Roboterhund und damit möglicherweise an eine “neue Normalität” erinnert. Die neuen “normalen” Roboterhunde werden allerdings höchstwahrscheinlich wie Hunde und nicht wie ein Stool-Tool mit Antenne aussehen.

Solche Gedanken erinnern uns daran, dass die Dinge, die zur neuen Normalität werden, oft durch einen kulturellen Einfluss entstehen und/oder Manifestationen von Ideen sind, die schon eine Weile herumschwirren, und dass sie selten die Form annehmen, in der sie zuerst gedacht waren.

Ähnliche Überlegungen kennen wir bereits aus der Ausstellung “Back to Future. Technologievisionen zwischen Fiktion und Realität” im Museum für Kommunikation, Frankfurt.

Normal 3: Stool-Tool for Vitra with antenna (detail), as seen at Konstantin Grcic. New Normals, Haus am Waldsee, Berlin
Normal 3: Stool-Tool für Vitra mit Antenne (detail), gesehen bei Konstantin Grcic. "New Normals", Haus am Waldsee, Berlin

Im Haus am Waldsee im Südosten Berlins, das sich über zwei Etagen erstreckt, gibt es sowohl Objekte, die einen relativ direkten Zugang ermöglichen, als auch solche, die dem Betrachter viel mehr Mühe abverlangen, um Zugang zu finden.

Ersteres wird vielleicht am besten durch die Traffic Liege für Magis veranschaulicht, an der eine Reihe von Smartphone- und Tablet-Haltern über Aluminiumstangen befestigt sind. Ähnlich verhält es sich bei einem Vitra Allstar-Bürostuhl, der mit drei elastischen Gymnastikbändern an Gerüststangen befestigt ist, so dass er in alle Richtungen geschoben und gezogen werden kann. Neben den sehr eindeutigen Anspielungen auf das zeitgenössische, agile Arbeiten und auf die bedingungslose Flexibilität, die heutzutage von vielen Mitarbeitern verlangt wird, lässt das Objekt auch Überlegungen beispielsweise zur Ergonomie von Büromöbeln zu. Wobei Ergonomie hier weniger etwas ist, das im Objekt verankert ist, als vielmehr die Art und Weise in der das Objekt benutzt wird. Die Tatsache, dass man sich körperlich anstrengen müsste, um den Stuhl in diesem Fall zum Aktenschrank zu rollen oder um zu verhindern, dass er in eine ungewollte Richtung rast, klingt nach einer guten Möglichkeit, Muskeln und Gelenke zu aktivieren, die durch das Sitzen traditionell geschädigt werden.

Bei den “New Normals” in der Ausstellung handelt es sich jedoch nicht um konkrete Thesen. Sie stellen vielmehr eine abstrakte Befragung dar, aus der sich nichts anderes ergeben kann als die vielfältigen Fragen der unterschiedlichen Betrachter.

Und gerade dieser Umstand zeigt sich für uns vor allem in Grcics weniger direkt zugänglichen Vorschlägen.

Normal 8: Vitra Allstar office chair with elasticated gymnastics bands, as seen at Konstantin Grcic. New Normals, Haus am Waldsee, Berlin
Normal 8: Vitra Allstar Bürostuhl mit elastischen Gymnastikbändern, zu sehen bei Konstantin Grcic. "New Normals", Haus am Waldsee, Berlin

Die für uns weniger direkt zugänglichen Thesen machen wohl den größten Teil der Ausstellung “New Normals” aus. Das ist keine Kritik - ganz im Gegenteil. Das moderne Leben verlangt uns viel zu wenig eigenständiges Denken ab. Insofern sind wir sehr dafür, ein bisschen mehr davon zu erzwingen.

So zwingt uns die Ausstellung zum Beispiel, darüber nachzudenken, warum ein Medici-Sessel für Mattiazzi hinter der Windschutzscheibe eines Citroën DS4 steht? Warum sind exemplarische Sitzmöbel von Grcic mit Fahrradschlössern an Wänden und Böden befestigt? Warum hängen zwei Myto-Stühle für Plank kopfüber an Stromabnehmern? Warum wurden zwei Brut-Sofas für Magis mit einem Sicherheitsnetz über ihnen zusammengestellt?

Uns kommen Gedanken wie der, dass "two" "us" nach sich zieht und, dass Brut + us = Brutus ist. Und ist das Sofa zu hause nicht auch so eine Art Forum, das denen im alten Rom ähnelt? Auch das visuelle Bild, das die beiden miteinander verbundenen Brut Sofas abgeben, erinnert sehr an Masanori Umedas Tawaraya-Boxring-Bett/Sofa für Memphis. Wenn man das Netz über den Brut Sofas fallen lässt, hat man eine Käfigkampfarena. Eine alternative Sichtweise auf das häusliche Sofa als Arena, als Forum, als Ort nicht nur der Rauferei, des Kampfes und des Diskurses, sondern auch des Lachens, der Verzweiflung, der Freundschaft, des Anfangs, des Endes, der Emotion und der Zugehörigkeit. Es entsteht eine neue Perspektive auf das häusliche Sofa als Zentrum der sozialen und politischen Existenz einer Familie. Wenn das häusliche Sofa als eine Art neues römisches Forum fungiert, welche Anforderungen stellt das an die Gestaltung eines Sofas? Wie kann ein Sofa so gestaltet werden, dass es das Forum Romanum und die Arena Romanum in einem zeitgenössischen Raum vereint?

Das ist nur einer der Gedankengänge, die die beiden Brut Sofas in uns ausgelöst haben. Solche Gedankengänge sind keineswegs endgültig und auch nicht unbedingt rational.

All die Gedankengängen, die durch die Vorschläge ausgelöst wurden, erinnern uns daran, dass jedes Möbelstück zwar ein definierbares physisches Objekt ist, aber eben auch viel, viel mehr.

Normal 14: Brut for Magis with a security net, as seen at Konstantin Grcic. New Normals, Haus am Waldsee, Berlin
Normal 14: Brut Sofas für Magis mit Sicherheitsnetz, gesehen bei Konstantin Grcic. “New Normals”, Haus am Waldsee, Berlin

Und so trägt “New Normals” dazu bei, uns daran zu erinnern, dass wir selten mit einem Möbelstück so leben, wie es sich der Designer vorgestellt hat. Vielmehr entwickelt sich im Laufe der Zeit die Funktion eines Möbelstücks. Ein bestimmtes Objekt fügt sich in das Leben des Benutzers ein, während sich der Benutzer an die Möglichkeiten anpasst, die ihm dieses Objekt bietet. So entwickelt das Objekt seine eigene Normalität in einem bestimmten Kontext. Eine Umstand, den wir anhand des Ulmer Hockers in der Ausstellung “Der Ulmer Hocker. Idee ─ Ikone ─ Idol im HfG-Archiv”, Ulm, erörtert haben. Wir konnten dort feststellen, dass das HfG-Archiv an der HfG Ulm 12 alternative Verwendungsmöglichkeiten für dieses einfachste aller Sitzmöbelobjekte dokumentiert hat, die weit über das bloße Sitzen hinausgehen.

Konstantin Grcic spricht in diesem Zusammenhang von “Hacking”. Ein Vorgehen, dass man in der Ausstellung als extremes Hacking bezeichnen kann. Es handelt sich hier um ein spekulatives, ergebnisoffenes “Hacking”. Nicht im Sinne von Jugaad oder Gambiarra mit einem bestimmten Ziel, sondern in dem Sinne, dass wir schauen, wohin es uns führt. Ein spekulativer, ergebnisoffener Vorgang, der eher auf der Makroebene der Gesellschaft als auf der Mikroebene des Einzelnen angesiedelt ist, der aber eine Vergleichbarkeit voraussetzt und davon ausgeht, dass es einen Austausch gibt.

Dieses “Hacking” bringt trotz seines Zugangs zu Überlegungen über neue Normen, über die Tatsache, dass sich unsere Objekte und Rituale des täglichen Lebens in einem kontinuierlichen Prozess der Evolution befinden, Vorschläge hervor, die letztendlich aber nicht erklären können, wie sich das Fremde in der breiteren Gesellschaft als völlig normal etabliert. Doch auch wenn dieses Wie in "New Normals" nicht direkt angesprochen wird, ist es sehr präsent, wenn man versucht, sich mit den verschiedenen Thesen auseinanderzusetzen. Wie, so fragt man sich, entsteht das “neue Normal”? Wer entscheidet darüber?

Normal 2: Medici lounge chair for Mattiazzi with a Citroën DS4 windscreen, as seen at Konstantin Grcic. New Normals, Haus am Waldsee, Berlin
Normal 2: Medici-Sessel für Mattiazzi mit einer Citroën DS4-Windschutzscheibe, gesehen bei Konstantin Grcic. "New Normals", Haus am Waldsee, Berlin

Vom 11. bis zum 16. Jahrhundert waren in der europäischen Gesellschaft Gegenstände des täglichen Gebrauchs, wie beispielsweise Stühle, weitgehend einem sehr begrenzten Kreis vorbehalten. So gab es, um im primären Kontext von “New Normals” zu bleiben, im 11. Jahrhundert kaum Stühle, im 16. Jahrhundert gehörten sie dann zu jenem sehr begrenzten Kreis der Gesellschaft, der Zugang zu häuslichen Sitzgelegenheiten hatte. Da Gebrauchsgegenstände nur für eine sehr begrenzte Sphäre der Gesellschaft existierten, rde ihre Entwicklung von dieser begrenzten Sphäre vorangetrieben und konzentrierte sich ausschließlich auf sie; die Bedürfnisse, Anforderungen und Meinungen der großen Mehrheit waren völlig irrelevant.

Mit dem Übergang der europäischen Gesellschaft vom 16. zum 21. Jahrhundert wurde nicht nur der Hocker immer mehr vom Beistellstuhl verdrängt, sondern auch die Gegenstände des täglichen Gebrauchs, wurden zu Gegenständen für immer breitere Gesellschaftsschichten. Auch die Entscheidungen über ihre Form, Funktion und Notwendigkeit begannen immer breitere Bedürfnisse und Standpunkte mit einzubeziehen. Doch auch wenn ein immer größerer Teil der Gesellschaft in die Entscheidungsprozesse einbezogen, berücksichtigt und beteiligt wurde, liefen diese Entscheidungsprozesse doch weitgehend im Rahmen institutioneller und/oder kommerzieller Zusammenhänge ab: "Wer entscheidet, [welche Möbel verfügbar sind]", fragte Verner Panton 1995, "der Kunde, der Mann auf der Straße, der Möbelhändler, der Designer oder der Hersteller? "1

Wer entscheidet heute?

Wer wird und wer sollte entscheiden, wenn wir uns auf das 26. Jahrhundert zubewegen, (vorausgesetzt, wir kommen so weit). Wer wird entscheiden, welche Möbel erhältlich sind und was in unserer neuen (europäischen) Gesellschaft zur Normalität wird? Und wie jeder, der über 35 Jahre alt ist, nur zu gut weiß, sind diese neuen Entwicklungen und die mit ihnen verbundenen neuen Normen bereits auf dem Weg.

Normal 1.3: MINGX for Driade with a bicycle lock, as seen at Konstantin Grcic. New Normals, Haus am Waldsee, Berlin
Normal 1.3: MINGX für Driade mit einem Fahrradschloss, gesehen bei Konstantin Grcic. "New Normals”, Haus am Waldsee, Berlin

Wie bereits erwähnt, hat vieles von dem, was zur neuen Normalität wird, oft eine lange Reise hinter sich, dümpelt oft schon eine Ewigkeit im Untergrund vor sich hin, bevor es an die Oberfläche kommt, Dieser Aufstieg erfordert einerseits oft die Entwicklung neuer Materialien und Technologien. Das bereits erwähnte Smartphone ist hier ein besonders gutes Beispiel. Andererseits können aber auch soziale und kulturelle Veränderungen neue Normen hervorbringen. An Hafermilch ist man einst nur schwer ran gekommen. Dank des zunehmenden Bewusstseins für die Zusammenhänge zwischen unserem Verhalten und der Umwelt ist sie jetzt allgegenwärtig.2 Ein weiteres Beispiel wäre das Durcheinander des QR-Codes, ein Konzept, das im Grunde tot und begraben war; dann kam die Covid-Pandemie und inzwischen kann man sich nur schwer einen Tag vorstellen an dem man nicht mehrmals mit einem QR-Code in Berührung kommt.

Der Aufstieg der städtischen Überwachungskameras, auf die sich Grcic bezieht, erforderte wiederum die Akzeptanz des politischen Arguments, dass die Kameras zwar die Überwachung des Einzelnen durch den Staat bedeuten, für die Verbesserung der Sicherheit aber notwendig sind. Hier ließe sich ein Argument von Friedrich von Borries aus der Ausstellung “Politics of Design. Design of Polotics” in der Neuen Sammlung München aufgreifen. Demnach sorgte die Entwicklung von Babyfonen in den 1930er Jahren, für eine breite Akzeptanz der Überwachung im Namen der Sicherheit auf privater, persönlicher Ebene. Diese Entwicklung kann wiederum als sanfter Beginn des Weges hin zu einer breiteren Akzeptanz für kommunalen Überwachung3 verstanden werden. In Form der Zunahme, der neuen Norm, von Video-Türklingeln, die unsere Straßen rund um die Uhr filmen, wird dieser Weg fortgeführt.

Es ließe sich also sagen, dass Ideen ein kritische Maß an Akzeptanz in der Bevölkerung überschreiten müssen, um zur Normalität zu werden, und dass dies im Laufe der Jahrhunderte immer der Fall war. Der Unterschied bestand wohl vor allem darin, wer wen in diese Prozesse einbezog und wessen Bedürfnisse berücksichtigt wurden. Im Vergleich zu den (europäischen) Gesellschaften des 11., 14., 16. oder 19. Jahrhunderts erkennen wir heute jedoch sehr viel besser, dass wir alle eine gültige Stimme bei dem haben, was zur Normalität wird. Wir haben individuell und kollektiv viel mehr Einfluss auf die Definition neuer Normen.

Die wichtige Frage ist, wie dieser Einfluss ausgeübt werden kann und sollte. Entscheidet das "Wer kann am lautesten schreien" in den sozialen Medien oder die tatsächlich geführten Diskurse?

Auch wenn die Frage, wie sich Möbel, Räume und Alltagsgegenstände in Zukunft entwickeln sollen, ein guter Ausgangspunkt sind, um integrative Entscheidungsprozesse zu etablieren, würden wir behaupten, dass autonome Fahrzeuge und Lieferdrohnen sowie deren ruchlose Ableger, die fliegenden Taxis, viel akutere und dringlichere Diskussion erfordern.

Normal 3: Stool-Tool for Vitra with antenna, as seen at Konstantin Grcic. New Normals, Haus am Waldsee, Berlin
Normal 3: Stool-Tool für Vitra mit Antenne, zu sehen bei Konstantin Grcic. “New Normals”, Haus am Waldsee, Berlin

Obwohl es sich nicht um eine Ausstellung von Konstantin Grcic handelt, ist “New Normals” als Ausstellung, die Konstantin Grcics Arbeiten zeigt, auch eine gute Gelegenheit, bekannte Grcic-Arbeiten durch die neuen Formen, Kontexte und Funktionen neu kennenzulernen und Mittel und Wege des Designers Grcic zu studieren.

Außerdem bietet sich eine gute Gelegenheit auch unbekannte Grcic-Werke wie den Kunststoffhocker Chap für Vitra kennenzulernen. Bei Chap handelt es sich um einen Kunststoffhocker, der seine Entstehung zweifellos den industriellen Werkstatthockern aus Metall und Holz des 19. und 20. Jahrhunderts verdankt. Somit haben wir es hier mit einem Objekt zu tun, das aus jener Pflege des Bestehenden hervorgeht, die einen zentralen Aspekt von Grcics Schaffen ausmacht. Der Kunststoffhocker verfügt über eine herausnehmbare Aufbewahrungseinheit im Sockel. Diese zusätzliche Funktion eines bereits bestehenden Objektes ermöglicht ganz neue Beziehungen und Nutzungsweisen. Ein Ansatz, der in vielen der “New Normals” Vorschläge zu finden ist. Da dieser Kunststoffhocker auch als Beistelltisch, Organisationshilfe fürs Home-Office, Badeschrank oder was auch immer eingesetzt werden kann, steht er ganz in der Tradition des Ulmer Hockers. Chap war für das Jahr 2021 angekündigt, wartet aber, vermutlich aufgrund der Pandemie, noch immer auf eine formale Einführung.

Normal 15: Chap for Vitra with a large stone, as seen at Konstantin Grcic. New Normals, Haus am Waldsee, Berlin
Normal 15: Chap für Vitra mit einem großen Stein, zu sehen bei Konstantin Grcic. "New Normals", Haus am Waldsee, Berlin

Es gibt nicht den einen Designprozess. Vielmehr gibt es unzählige verschiedene Wege zu einem Objekt. Während einige direkt, bewusst und unbeirrbar auf die Entwicklung eines bestimmten Objekts für einen bestimmten Kontext ausgerichtet sind, sind andere viel abstrakter und indirekter, schlängeln sich über mehrere Zwischenstationen zum Ziel. Konstantin Grcic arbeitet seit vielen Jahren mit der Pariser Galerie Kreo zusammen. Auch wenn die Ergebnisse einer solchen Galeriekooperation letztlich in ein kommerzielles Produkt münden können, geht es dabei aber in erster Linie darum, ein Mäandern zu fördern, das heißt einen Raum zu entwickeln, in dem reflektiert, experimentiert, getestet, hinterfragt, skizziert und widersprochen werden kann - abseits vom Druck kommerzieller Überlegungen, von dem, was der ehemalige Vitra-CEO Rolf Fehlbaum einmal freudig den "unbarmherzigen Zensor aller Ideen" nannte.4

Auch die Ausstellung “New Normals” ist ein solcher Raum. Ein Raum, der keine bestimmte Position einnimmt, der sich nicht sauber definieren lässt. Ein Raum, der nicht fordert oder urteilt und schon gar nicht zensiert. Damit erscheint die Ausstellung als relativ neutraler Raum, der uns die Möglichkeit gibt, über unsere Gebrauchsgegenstände und unsere Interaktionen mit ihnen nachzudenken. Es geht darum, wie sich Alltagsgegenstände und die damit verbundenen Rituale im Laufe der Zeit sowohl auf der Mikro- als auch auf der Makroebene unweigerlich verändern und entwickeln, und um die Frage inwieweit unsere individuellen und kollektiven Ansprüche mit dem übereinstimmen, was uns Hersteller, Designer, Architekten, Instagram und andere als wünschenswert und sinnvoll verkaufen wollen.

Die Ausstellung erinnert uns daran, dass neue Normen nicht notwendigerweise auf neuer Technologie beruhen müssen, sondern auf einer intelligenteren, differenzierteren, nuancierteren Nutzung bestehender Technologie beruhen können. Neue Normen müssen zudem nicht zwangsläufig neu sein, sondern können auch neue alte Normen sein, die an zeitgenössische Realitäten angepasst und weiterentwickelt werden. Wir müssen das Rad nicht ständig neu erfinden, sondern kontinuierlich darüber nachdenken, wie wir Räder konstruieren, wie wir Räder einsetzen und warum Räder für die heutige Gesellschaft relevant sind.

Darüber hinaus eröffnet die Ausstellungen einen Raum, der uns mit Werken von Konstantin Grcic daran erinnert, dass Möbel zwar funktional und attraktiv sein sollten, dies aber subjektive Begriffe sind. Wichtiger ist, dass Möbel ansprechbar und kommunikativ sind, nicht allzu ernst genommen werden und sich nicht in einem überzogenen Verständnis ihrer Bedeutung verfangen.

Vor allem aber ist “New Normals” ein Raum, in dem man besser verstehen kann, dass ein Tisch mit Spiegeln oder ein Stool-Tool mit Antenne, so seltsam, fremdartig sie 2022 auch erscheinen mögen, in Zukunft ganz normal sein könnten. Die Ausstellung hilft so besser zu verstehen, dass wir alle eine Rolle dabei spielen, das Normale zu definieren.

Konstantin Grcic. "New Normals” ist noch bis Sonntag, den 8. Mai im Haus am Waldsee, Argentinische Allee 30, 14163 Berlin zu sehen.

Weitere Informationen finden Sie unter: https://hausamwaldsee.de

Und wie immer in diesen Zeiten sollten Sie sich im Voraus mit den aktuellen Regeln und Systemen in Bezug auf Eintrittskarten, Einlass, Sicherheit, Hygiene, Garderobe usw. vertraut machen. Bleiben Sie bei ihrem Besuch verantwortungsbewusst und vor allem neugierig......

1Verner Panton: Meine Design-Philosophie, BÜROszene, Vol 47, Nrs. 1-2, 1995 Obwohl es erst 1995 veröffentlicht wurde, basiert es auf einer Rede, die Panton in den 1980er Jahren mehrmals gehalten hat.

2Hafermilch ist vielleicht nur eine Modeerscheinung, die unabhängig von Umwelt- und Gesundheitsaspekten ist und in erster Linie von kommerziellen Interessen und Marketing angetrieben wird...die Zeit wird es zeigen....

3Echte Designjournalisten würden an dieser Stelle anfangen, Michel Foucault ausführlich zu zitieren. Wir werden das nicht tun, aber Sie können sich gerne selbst darin vertiefen......

4Rolf Fehlbaum in Uta Brandes; Alexander von Vegesack [Hrsg.], Bürgerbüro: Ideen und Notizen zu einer neuen Bürowelt, Steidl Verlag, Göttingen, 1994, Seite 8

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