Ähnlich wie im Falle "Bauhaus" wird "Memphis" oft auf einen "Stil" reduziert, auf etwas, das sich "nachmachen" ließe.
Und wie im Falle "Bauhaus" ist diese Annahme nicht nur falsch, sie behindert auch unser Verständnis der Designgeschichte und der Entwicklung hin zu unserem heutigen Design. Dieses Verständnis ist aber sehr wichtig, wenn es darum geht, wo wir stehen und wie wir am besten vorankommen können.
Mit der Ausstellung “Memphis: 40 Jahre Kitsch und Eleganz” lädt die Vitra Design Museum Gallery uns ein, tiefer zu gehen und hinter die kunststoffbeschichteten Oberflächen zu schauen.
Das Designkollektiv Memphis eröffnete am 18. September 1981 seine erste Ausstellung in Mailand in der Galerie Arc '74, die in der Designgeschichte einen ebenso sagenhaften Platz einnimmt wie die präsentierten Objekte. Auch wenn es den Eindruck machte, als sei die Ausstellung aus heiterem Himmel aufgetaucht, hatte es doch viele Jahre gebraucht um zu diesem Punkt zu kommen. Ettore Sottsass, die treibende Kraft hinter dem Kollektiv und zum Zeitpunkt der Ausstellungseröffnung ein 64-jähriger Grand Doyen des italienischen Designs, erklärte einmal, dass “Memphis” zehn Jahre in Entwicklung gewesen sei1. Wir würden behaupten, dass Memphis ein Moment in einem internationalen Diskurs über Design war, der bereits in den frühen 1960er Jahren begonnen hat und in dem Sottsass ein besonders idiosynkratischer und einer der interessantesten Mitwirkenden war.
Dieser Moment in der Designgeschichte kam an drei Abenden im Dezember 1980 bei einer Reihe von Treffen in der Mailänder Wohnung von Sottsass und Barbara Radice in Gesellschaft einer Gruppe junger Architekten zustande. Jene jungen Architekten waren, wie Sottsass, mit dem Stand der zeitgenössischen Architektur und des Designs unzufrieden und fragten sich, wie es am besten weitergehen könne. Als eines Abends, so die Geschichte, die Idee einer kollektiven Zusammenarbeit konkreter wurde, lief im Hintergrund Bob Dylans “Stuck Inside of Mobile with the Memphis Blues Again” in Dauerschleife. Bei dem Stück von Dylans Album “Blonde on Blonde” aus dem Jahr 1966 handelt es sich um eine wundersam beschwingte Geschichte über Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, die in der Stadt Mobile, Alabama, spielt und aus deren Titel Sottsass (so heißt es) Memphis für den Namen der Gruppe übernommen hat. Der Grund war, dass es Assoziationen zu zwei unterschiedlichen “Memphis” gibt: dem antiken Memphis, der ersten Hauptstadt Ägyptens, einer Stadt, die untrennbar mit der Gottheit Ptah, Schutzpatron der Handwerker und Architekten, verbunden ist, und dem zeitgenössischen Memphis, Tennessee, das nicht nur für den Blues, sondern für die breitere Americana in, wenn man so will, all ihren verschiedenen Schattierungen von Kitsch und Eleganz steht.
Aus jener verzweifelten, endlosen Hoffnungslosigkeit, galt es sich, wie im Falle von Dylans Erzähler, durch Memphis zu befreien.
Oder wie Barbara Radice, die für einen Großteil der Organisation und Werbung der Gruppe Memphis verantwortlich war, 1981 schrieb: "Im Design bedeutet Veränderung, sich von der funktionalen Art des anspruchsvollen Designs zu befreien, das sich vor allem in den 50er Jahren in Italien durchsetzte und sich zum heutigen internationalen "guten" oder "echten" Design entwickelt hat. Es bedeutet auch eine Abkehr von der radikalen Ästhetik, die in den 60er und 70er Jahren versuchte, an eben diese Tradition anzuknüpfen".2
Der Weg nach vorne lag für Memphis also weder in der Fortführung des reduzierten, rationalen, ornamentfreien Designs der Zwischenkriegszeit, wie sie die westdeutsche gute Form verkörpert, aber auch nicht im Pop-Art-Design oder dem Radikalismus mit seinen unapologetischen Frontalangriffen auf bisherige Designpositionen. Der Weg in die Zukunft sah für Memphis anders aus.
Dieses Selbstverständnis macht deutlich, dass Memphis ein neuer Beitrag zum Designdiskurs war; ein Kollektiv von Designern, das seine eigenen Antworten auf zeitgenössische Fragen des Möbel- und Wohndesigns suchte. Außerdem ein Kollektiv von Designern, die ihre jeweils eigenen Antworten suchten, denn, wie Radice anmerkt, "Memphis ist einzigartig, weil es sich nicht als eine homogene Bewegung oder Schule präsentiert"3
Wir würden allerdings anmerken, dass so wie Memphis auch das Bauhaus nicht homogen war. Die Tatsache, dass sowohl “Memphis” als auch “Bauhaus” heute als homogen gelten und im Volksmund auf einen universell verstandenen Stil reduziert werden, der "nachgebaut" werden kann, ist nur eine der vielen Verbindungen zwischen beiden.
Dominiert wird die Ausstellung durch die Präsentation von etwa einem Dutzend Memphis-Objekten aus den frühen Memphis-Jahren und einem Objekt aus Sottsass' Jahren vor Memphis. An dieser Stelle wird deutlich, dass er schon eine Weile auf dem “Weg nach Memphis” war, bevor er schließlich dort ankam. Obwohl es sehr leicht fällt, sich einfach auf die Objekte zu konzentrieren, ist das Begleitmaterial an den Wänden von “40 Jahre Kitsch und Eleganz” ein ebenso wichtiger Bestandteil der Ausstellung. Dokumente, Fotografien und Texte tragen dazu bei, den Blick von den Objekten weg und auf Memphis zu lenken. All die Texte von Barbara Radice erörtern sowohl die komplexe Beziehung zwischen Memphis und der Mode, als auch Farbe, Materialien, Dekoration und Plastiklaminat - die definierenden visuellen, physischen Merkmale von Memphis, auf die man sich zu konzentrieren pflegt. Radice hilft einem zu verstehen, dass sich Memphis vor allem durch theoretische, definierende Merkmale auszeichnet, und, dass sich die Menschen eher auf diese konzentrieren sollten. Obwohl Memphis den Anspruch erhebt, nicht-akademisches Design zu sein, handelt es sich doch um sehr theorielastiges Design. Wenn man statt der Möbel Memphis verstehen will, muss man sich mit dieser Theorie auseinandersetzen. Die Ausstellung präsentiert diesen Aspekt so ruhig und mühelos, dass man keine Angst vor dieser Theorie haben muss und sie sogar genießen.
Über Memphis hinaus ermöglicht die Ausstellung auch weitere Überlegungen zur Geschichte des Möbeldesigns.
Zum Beispiel Überlegungen zum italienischen Design und zu "nationalem" Design im Allgemeinen. Memphis ist zwar in Mailand entstanden und konnte auch nur in Mailand entstehen, weil Memphis dort von Ettore Sottsass und seinen jahrzehntelangen kritischen Überlegungen zu den Beziehungen zwischen Individuen, Gesellschaften und Gegenständen des täglichen Gebrauchs begleitet wurde. Von den 16 in der ersten Memphis-Kollektion vertretenen Kreativen sind dennoch nur sechs Italiener, die Mehrheit besteht aus einer Mischung aus französischen, englischen, amerikanischen, japanischen und spanischen Gestaltern. Diese internationale Mischung unterstreicht auf erfreuliche Weise, dass man in früheren Jahrhunderten getrost von italienischem Design oder dänischem Design oder marsianischem Design usw. sprechen konnte. Als das 20. Jahrhundert seinem Ende immer näher rückte und schließlich ins 21. Jahrhundert überging, wurden solche Begriffe zunehmend bedeutungslos, da sowohl die Gesellschaft immer globaler als auch die Designer immer mobiler wurden. Das bedeutet, dass die Positionen und das Verständnis von Design weniger geografisch bestimmt, und vielmehr im jeweiligen Designer verwurzelt sind. Das soll nicht heißen, dass regionale Akzente und Dialekte im Design verleugnet werden, sondern nur, dass Design heute eher aus einem Land kommt, als dass es diesem Land immanent ist. Auch wenn das Bauhaus ohne Frage aus vielen Deutschen bestand, war Wassily Kandinsky doch Russe, Marcel Breuer Ungar, Hannes Meyer Schweizer - um nur drei prominente Bauhäusler nicht deutscher Herkunft zu nennen. Auch wenn das Bauhaus also als deutsch gilt, ist das im Grunde nur teilweise richtig.
Denken wir zum Beispiel an die Postmoderne, jene Strömung in der internationalen Architektur und im Design, für die Memphis regelmäßig als Lehrbuchbeispiel herangezogen wird. Wie wir in der Berlinischen Galerie, Berlin, in der Ausstellung "Anything Goes?" festgestellt haben, lässt sich das Phänomen Postmoderne nicht so einfach definieren, wie es oft dargestellt wird. Das wird auch durch die bereits erwähnte und gern übersehene Heterogenität der Memphis Objekte, die in “40 Jahre Kitsch und Eleganz” zu sehen sind, sehr deutlich erkennbar. Zum Beispiel in der Rückbesinnung auf und Wiederholung von klassischen Formenelementen in ungewohnten Kontexten und Farbtönen. Beste Beispiele sind hier der Tartar-Tisch und die Murmansk-Schale von Ettore Sottsass: Objekte, die aus dem antiken Memphis des Ptah stammen könnten, dann aber auch wieder nicht. Hinzu kommt die Rückbesinnung auf den Expressionismus, der der Moderne vorausging. Peter Shires Bel Air Lounge Chair zum Beispiel könnte ein Kandinsky-Gemälde sein. Erkennbar wird der postmoderne Ansatz auch in dem Versuch, neue Beziehungen und Konstruktionsprinzipien von Objekten zu entwickeln. Michele De Lucchis Riviera-Stuhl wäre hier ein gutes Beispiel. Viele Objekte wirken außerdem, wie aus Vorhandenem zusammengeschustert, eher wie Bricolagen als Design. Hier sind Sottsass' Beverly-Anrichte und Martine Bedins Super-Lampe gute Beispiele. Wenn Memphis also als Paradebeispiel der Postmoderne gelten soll, dann als eines, das die Heterogenität der Postmoderne herausstellt anstatt sie auf ein Merkmal festzulegen. Damit wäre auch ein Verständnis von Memphis im Sinne eines “nachahmbaren” Stils ausgeschlossen.le.
Als Ausstellung kann “40 Jahre Kitsch und Eleganz” aus Platzgründen nicht mehr sein als eine kurze Einführung zu Memphis. Dieser Tatsache ist sich die Ausstellung sehr bewusst und macht das Beste aus den begrenzten Möglichkeiten. Das gelingt nicht zuletzt durch die Präsentation einer Sammlung von Memphis-Objekten, die vielfältiger ist, als man gemeinhin von Memphis Objekten annehmen würde. So werden die Besucher ermutigt, ihre Überlegungen zum Memphis-Kollektiv und den Memphis-Möbel auf eigene Faust fortzusetzen.
“Memphis: 40 Jahre Kitsch und Eleganz” ist noch bis Sonntag, 23. Januar 2022 in der Vitra Design Museum Gallery, Charles-Eames-Str. 2, 79576 Weil am Rhein zu sehen.
Darüber hinaus zeigt das Vitra Design Museum bis Sonntag, 5. September 2021, die Ausstellung “Deutsches Design 1949-1989 Zwei Länder, eine Geschichte”
Weitere Details finden Sie unter www.design-museum.de.
Und wie immer in diesen Zeiten, wenn Sie den Besuch einer Ausstellung planen, machen Sie sich bitte im Voraus mit den aktuellen Regeln hinsichtlich Eintrittskarten, Eintritt, Sicherheit, Hygiene, Garderobe usw. vertraut. Und bleiben Sie bitte sicher, verantwortungsbewusst und vor allem neugierig...
1Ettore Sottsass in conversation with Gian Piero Vincenzo in Poul ter Hofstede, Memphis 1981 – 1988, Groninger Museum, 1989
2Ettore Sottsass in conversation with Gian Piero Vincenzo
3ibid