Ronan und Erwan Bouroullec - zwei Brüder und eine schlichte, poetische Verbindung.
Der Name Bouroullec lässt sich auf den altbretonischen Boureller, einen Sattler und Polsterer, zurückführen. Im zeitgenössischen Kontext wird er größtenteils mit den Arbeiten der Brüder Ronan und Erwan Bouroullec in Zusammenhang gebracht. Die Brüder haben nicht nur das Sattler- und Polsterhandwerk, sondern auch Rolle und Funktion dieser Gewerke im privaten und öffentlichen Raum stark ausgebaut und weiterentwickelt, so dass "Ronan und Erwan" fast schon zum Synonym für den Familiennamen Bouroullec geworden sind.
Soweit bekannt sind die Bouroullecs in der Nähe von Kemper am äußersten westlichen Rand der Bretagne aufgewachsen. Dabei handelt es sich um eine Region, die für ihren Bagad, eine bretonische Band, die aus Dudelsack, Bomben und Schlagzeug besteht, berühmt ist. Das furchterregende Dröhnen des Bagad hält seit jeher alle Feinde auf Distanz. Eine weitere bretonische Spezialität sind die sogenannten Fayencen - glasierte Porzellanobjekte, auf denen das reiche bretonische Kulturerbe abgebildet ist. Trotz der engen Verbundenheit von Ronan und Erwan mit dieser Region war sie für das Bourellier-Handwerk der beiden zu restriktiv und so segelten die beiden widerwillig, aber aus freiem Willen weiter.
Sie landeten in Saint Denis, erkannten schnell ihren Fehler und zogen weiter nach Paris, wo sie sich als Bourelliers niederließen und zu den internationalen Stardesignern Bouroullec wurden.
Diese Entwicklung und Entfaltung der Bouroullecs wurde von vielen Gleichgesinnten, die sie in Paris trafen, unterstützt und gefördert. Damals versuchte man in Paris ein Jahrzehnt Designentwicklung zu begreifen, das unter der turbulenten Vormundschaft von Philippe Starck gestanden hatte. Es ging darum wie es von diesem Erbe ausgehend weitergehen kann.
Zu den wichtigsten Protagonisten jener Tage gehörten der Sattlermeister Bruno Domeau und der Polstermeister Philippe Pérès, die in ähnlicher Weise nach neuen Wegen und neuen Ausdrucksformen für ihr Handwerk suchten und in Form eines Sitz-/Liegeobjekt, das Ronan und Erwan aus frei schwebenden Decken entworfen hatten, fündig wurden. Da Ronan und Erwan keine Zauberer, sondern pragmatische, wenn auch hochpoetische, frei denkende, ungehemmte Realisten sind, basierten ihre schwebenden Sitz-/Liegedecken auf einem Konzept, das für die Pariser Augen zu ungewohnt und fremd war - die Arbeit wurde übersehen. Dabei ist sie, einmal verstanden, ein besonders elegantes Beispiel für die hart erkämpfte formale und funktionale Einfachheit, die oft aus dem besonderen Verständnis der Bouroullecs für Materialien und für ihr Handwerk resultiert.
Darüber hinaus entstanden in jenen frühen Jahren in Paris zwei weitere Projekte, die sehr vertraute Objekte aufgriffen und sie konzeptionell neu interpretierten. Dieses neue Verständnis rückte vor allem den Benutzer, die Bedürfnisse des Benutzers und die Realität des Gebrauchs in den Mittelpunkt von Konzepten, die im Wandel der Zeit weitgehend unverändert geblieben waren, sich aber durch eine Standardisierung und Materialreduzierung bestens für die industrielle Produktion eigneten.
Ein Beispiel sind die Vasen “Vases combinatoires”. Sie entstehen nach dem Baukastenprinzip aus einer begrenzten Anzahl von Komponenten, die in nahezu endlosen Variationen zusammengefügt werden können. Damit liegt das Augenmerk weniger auf Ornamentik und Materialien, wie es traditionell bei Vasen der Fall gewesen wäre, sondern auf der Zweckmäßigkeit und Haltbarkeit. Mit der “Cuisine désintégrée” verwandelten die Bouroullecs wiederum die konventionell fixierte und starre Kücheneinrichtung in etwas, das nicht nur vergänglich ist, sondern auch auf die sich ständig verändernden Bedürfnisse der Benutzerinnen und Benutzer und den sich ständig verändernden Raum reagiert. Auch hier verschob sich so der Fokus: statt Wert von Objekten und Materialien stehen Zweckmäßigkeit und Haltbarkeit im Vordergrund. Diese beiden Projekte repräsentieren die frühesten Projekte der Bouroullecs bei denen das Thema “Verbindung” als Essenz ihrer Arbeit Gestalt annimmt. Denn bei Ronan und Erwan Bouroullec geht es selten um das Objekt an sich, sondern eher um eine strukturelle Verbindung, die das Objekt letztlich ausmacht und deren hart erkämpfte Logik, Leichtigkeit und Poesie die Basis für die formale und funktionale Einfachheit bildet. Damit hängt auch zusammen wie sich das Objekt mit dem Raum, in dem es steht, und mit den Benutzerinnen verbindet, wobei letzteres variierend als funktionale, taktile und oder emotionale Verbindung zum Ausdruck kommt. Lexikografisch ließen sich die Bouroullecs also auch unter dem Begriff “Leitung” im Sinne von Vermittlung einordnen, auch wenn das dann doch etwas überzogen erscheint.
Vasen- und Küchensystem erregten auch die Aufmerksamkeit des jungen lombardischen Möbelherstellers Giulio Cappellini, der nach radikalen Ideen suchte, um dem einstmals für zeitgenössisches Möbel-, Produkt- und Lichtdesign bekannten Königreich der Lombardei wieder zu altem Ruhm zu verhelfen - wenn auch mit weniger Aufregung und Provokation als früher, aber dafür mit mindestens genauso viel Ehrlichkeit, Charakter und Ungestüm.
In Ronan und Erwan Bouroullec fand er zwei willige Kompagnons: in kürzester Zeit hatten die Brüder für Cappellini unterschiedlichste Projekte entwickelt. Darunter, neben vielen anderen, der Hole Chair aus gestanztem Aluminium, bei dem sich die Designer die Eigenschaften des Materials zunutze gemacht haben, um die Konstruktion zu vereinfachen und eine industrielle Produktion mit handwerklicher Sensibilität zu ermöglichen; die Cloud-Module, Möbeldesigns, die fast schon unter Innenarchitektur laufen können; oder der Samouraï-Stuhl, in dem Ronan und Erwan Bouroullec ihr Gefühl für Poesie sehr prägnant mit der Polsterung zum Ausdruck bringen. Auffällig ist hier auch die Leichtigkeit, mit der sie die Beine und den Rahmen eines Stuhls von der Sitzfläche trennen, ohne sie zu dissoziieren und die Einheit des Stuhls zu zerstören. Hier werden Aspekte sichtbar, die in den kommenden Jahren in den Mittelpunkt des Designansatzes der Bouroullecs rücken sollten.
Was da sichtbar wurde, hat auch die Betreiber von Kreo, einer Galerie im 13. Arrondissement von Paris überzeugt, durch deren Fenster eine ständig wechselnden Reihe von zeitgenössischen Designobjekten zu sehen war. Vom Designansatz der Bouroullecs waren sie derart angetan, dass sie bei ihnen einen endlosen Strom von Arbeiten in Auftrag gaben. Und während das Galeriefenster von Kreo zwar ein sehr öffentlicher Ort war, fungierte es für Ronan und Erwan Bouroullec eher als eine Oase, in die sie sich geschützt vom kommerziellen Druck zurückziehen konnten um sich dem Theoretischen, dem Konzeptuellen, dem Grundsätzlichen und dem Empirischen zu widmen. Kreo bot ihnen so Raum und Zeit, sowohl ihre Positionen und ihr Designverständnis weiterzuentwickeln, und sich mit einem Handwerk auseinanderzusetzen, das sich immer weiter von dem des Bourreliers entfernte.
Damit wurde der Grundstein für viele ihrer späteren, viel beachteten Projekte gelegt, von denen wiederum viele erst möglich, nachdem Fehlbaum der Jüngere, der Chef von Vitra, die Bouroullecs unter seine Fittiche genommen hatte. Fehlbaum der Ältere hatte Vitra an der strategisch wichtigen und sehr günstigen deutsch-schweizerischen Grenze gegründet und für den Firmenhauptsitz viele der berühmtesten Architekten der Zeit angeheuert, um Gebäude zu entwickeln, die nicht nur praktisch und sinnvoll für die Vitra-Mitarbeiter, sondern auch eine Anregung für den Architekturdiskurs sein sollen. Für sein Möbelunternehmen Vitra engagierte Fehlbaum wiederum viele der anspruchsvollsten und einfühlsamsten Designer der Zeit, um Möbel zu entwickeln, die praktisch, sinnvoll und anregend für Diskurse über Möbel, ihre gesellschaftliche Rolle, über Materialien, Funktionalität, Ästhetik und Wert sein sollten und so zur unaufhörlichen und notwendigen Entwicklung des Möbeldesigns beitragen würden.
In dieser Gesellschaft konnten sich Ronan und Erwan Bouroullec voll entfalten. Im Verlauf ihrer Zusammenarbeit mit Vitra realisierten sie so unterschiedliche Konzepte wie das Raumteilerelement Algue, das Microarchitektursystem Workbays, den Stuhl Vegetal, oder den filgranen Slow Chair, der Dank seines Innovationsgehaltes Erinnerungen an die Arbeit des kalifornischen Designerduos Ray und Charles Eames weckt, das für einen Großteil der Pionierarbeit in den frühen Tagen von Vitra verantwortlich war. Während die Eames mit Arbeiten wie dem Aluminium Chair ein völlig neues Verständnis von Stühlen entwickelte, entwickelten Ronan und Erwan Bouroullec mit dem Slow Chair ein völlig neues Verständnis von Polsterung. In ähnlicher Weise hatten sie all die Jahre zuvor bereits mit den frei schwebenden Decken für Domeau et Pérès getan.
Dank der Bouroullecs wehte eine frische Brise von Emotion, Taktilität und Sinnlichkeit durch das ansonsten weitgehend technische und nüchterne Möbelunternehmen Vitra. Ein Beitrag, für den Vitra wahrlich dankbar sein wird und der dazu verleiten kann, Ronan und Erwan Bouroullecs Beitrag zu Vitra mit dem zu vergleichen, den Wormley of Dunbar hätte bei Herman Miller leisten können, wozu er jedoch nie die Chance bekam.
Doch so glücklich die Bouroullecs in der Vitra-Gemeinschaft auch gewesen sein mögen und so viel sie auch von den Vitra-Ingenieuren und von Fehlbaum gelernt haben, ihre angeborene Neugier, ihr Durst und ihr Eifer, konnten niemals allein innerhalb der Grenzen von Vitra gestillt werden. Und so setzten die Brüder ihre Entdeckungs- und Forschungsreise fort; eine Reise, die ebenso auf persönlichem wie beruflichem Gebiet verlief. Wo immer die Bouroullecs auftauchten, wurden sie mit offenen Armen empfangen; Werkstätten und Labors, Armeen von Technikern, Materialwissenschaftlern und Handwerkern wurden ihnen zur Verfügung gestellt, und Ronan und Erwan Bouroullec revanchierten mit so diversen Projekten wie der Officina-Kollektion für Magis, dem Can Sofa für Hay, dem Osso Stuhl für Mattiazzi, der Facett Kollektion für Ligne de Roset, der Aim Leuchte für Flos und vielen anderen. Immer flossen in diese Arbeiten Überlegungen zu den Beziehungen eines Objekts mit dem Raum, dem Benutzer und sich selbst, sowie Reflexionen über Vereinfachung, Modularität, Standardisierung, Systematik, Taktilität etc. ein. Bestehende Konzepte wurden neu imaginiert und in immer neuen Kontexten, mit neuen Materialien und neuen Produktionsprozessen überarbeitet. So schufen die beiden Designer ein Portfolio von Arbeiten, das man nicht als Aneinanderreihung einzelner endgültiger Produkte missverstehen, sondern als fortlaufende Forschung, als eine fortlaufenden etymologischen Evolution auffassen sollte. Jedes Objekt verbindet sich mit dem vorherigen und dem, was nach ihm kommt.
Ihre vielen Ausflüge führten Ronan und Erwan Bouroullec auch zu immer neuen Projekten außerhalb des Interieurs, für die sie ebenso gefeiert wurden. Auch hier fungierten sie allerdings immer als Gestalter eines funktionalen, einnehmenden, emotionalen Raums. In diesem Zusammenhang realisierten sie Werke wie "Oui" in Aarhus, von dem später Ableger unter anderem in Poitiers in Westfrankreich und in dem von Piet Oudolf geschaffenen Garten auf dem Vitra Campus installiert wurden. Für eine ruhige Ecke auf der Pariser Champs-Élysées entstand ein Springbrunnen, der Licht und Wasser verbindet - auch hier keine Zauberei, sondern technische Finesse; und für die Stadt Rennes, die Hauptstadt ihrer Heimat Bretagne, entwarfen sie einen Leuchtturm, der weniger der Sicherheit der Seeleute dienen soll, und vielmehr die Funktion hat den Städtern eine neue Perspektive auf den Fluss Vilaine und die Innenstadt zu ermöglichen.
Doch trotz allem blieb die nahezu magnetische Anziehungskraft des Vitra Universums so stark wie die der Bretagne, und nahm sogar noch zu, als Vitra das finnische Unternehmen Artek übernahm. Ronan und Erwan Bouroullec fühlten sich sofort zu Artek hingezogen, was sie durch Werke wie Kaari, den Rope Chair zum Ausdruck brachten. Bei Kaari griffen sie das sagenumwobene Biegen von Holz auf, das für Artek so charakteristisch ist. Mit dem Rope Chair thematisierten die Bouroullecs ihr Verständnis von Komfort als dynamisch und nicht statisch. Damit lieferten sie nicht nur eine Weiterentwicklung des Handwerks des Bourelliers, sondern ein weiteres Beispiel für die konzeptionelle Neuinterpretation etablierter Genres, die sich durch das Werk von Ronan und Erwan Bouroullec zieht.
Fortsetzung folgt...