Es geht uns hier nicht um die Situla (lat. "Eimer") von Gotofredo selbst, sondern um das, was auf dem kleinen, filigran geschnitzten Elfenbeinobjekt aus dem 10. Jahrhundert abgebildet ist: Die vier Evangelisten Matthäus, Markus, Lukas und Johannes schreiben ihre Evangelien, wie wir annehmen, an höhenverstellbaren Pulten.
Wie Bert S. Hall, dem wir für die Einführung zur Situla zu ewigem Dank verpflichtet sind,1 anmerkt, könnten die abgebildeten Schnitzereien an den Stangen in der Mitte der Schreibtische der Evangelisten rein funktionaler, aber auch rein dekorativer Natur sein. Wir glauben, und das gilt es zu diskutieren, dass diese Schnitzereien eine praktische Funktion haben, das heißt, dass die abgebildeten Schreibtische höhenverstellbar sind. In diesem Fall handelte es sich bei der Situla um einen der frühesten Hinweise auf dieses sehr zeitgenössische Büromöbel.
Aber beginnen wir mit der Situla.2
Die Situla, die vermutlich zwischen 974 und 979 n. Chr. in Mailand auf Veranlassung des damaligen Erzbischofs Gotofredo entstanden ist, gehört heute zu den Schätzen des Mailänder Doms und zeigt neben den vier Evangelisten auch Maria und das Jesuskind. Und zwar, wie Paola Venturelli erörtert, in einer Form, die in der abendländischen Ikonografie so keine Vorläufer hat.3
Was uns jedoch interessiert, ist weniger die Frage nach den Vorläufern der Situla, als vielmehr, ob es sich bei den abgebildeten Lesepulten um Vorläufer heutiger Schreibtische handelt. Hier ist allerdings als Erstes festzuhalten, dass es sich bei den Darstellungen aus dem 10. Jahrhundert um Darstellungen von Szenen handelt, die 900 Jahre früher stattgefunden haben sollten, und für die es keine dokumentarischen Beweisstücke in Form von Möbeln, Utensilien, Abbildungen etc. gegeben haben wird. Die Szenen auf der Situla sind imaginiert, fiktiv und figurativ.
Und die Lesepulte? Sind die auch imaginär, fiktiv, figurativ?
Wir können keine physischen Beispiele von Lesepulten aus dem 10. Jahrhundert finden, die zu den Darstellungen auf der Situla passen würden. Wie Eric Mercer in Bezug auf mittelalterliche Möbel festhält, "gibt es nur sehr wenige Stücke, die mit Sicherheit einem Datum vor 1200 zugeschrieben werden können, und nicht viele vor 1300"4. Auch Penelope Eames meint: "Vor dem 12. Jahrhundert beschränken sich die erhaltenen mittelalterlichen Möbel, die eher vollständig als fragmentarisch sind, fast vollständig auf eine Handvoll Throne, von denen die meisten aus Stein oder Metall sind".5 Es wäre also ein absolutes Wunder, wenn wir ein physisches Exemplar ausfindig machen könnten, und so sollten wir uns dem Thema vielleicht aus einer anderen Perspektive nähern.
Einige der frühesten Darstellungen der vier Evangelisten bei der Arbeit an ihren Evangelien finden sich im Evangeliar von Lindesfarne aus dem späten 7. und frühen 8. Jahrhundert, einem Werk, das drei der vier mit ihren Manuskripten auf den Knien zeigt, allein Markus wird durch ein rundes Pult unterstützt.
Bruce Metzger erörtert darüber hinaus, dass von der Antike bis in die frühen Jahrhunderte n. Chr. Schreiber bei ihrer Arbeit meist entweder im Stehen auf Tafeln schreibend oder sitzend mit über den Knien ausgebreiteten Schriftrollen dargestellt wurden. "Während des zweiten Teils des 8. Jahrhunderts und während des gesamten 9. Jahrhunderts zeigt sich bei der Anzahl der künstlerischen Darstellungen von Personen, die auf Pulten oder Tischen schreiben, eine deutliche Zunahme."6
Ab dem frühen 9. Jahrhundert wurden also regelmäßig zwei der vier Evangelisten an einem Lesepult sitzend dargestellt. Zum Beispiel sitzen im Ebo-Evangeliar aus dem frühen 9. Jahrhundert, der im Auftrag von Erzbischof Ebo von Reims entstanden ist, Matthäus und Lukas an einem Lesepult, während der Regensburger Codex Aureus von St. Emmeram von ca. 870 n. Chr. wiederum Lukas und Markus bei der Arbeit an einem Lesepult darstellt. Aber warum nicht alle vier? Metzger meint, dass dies mit der damals etablierten, romantisierenden Tradition zusammenhängen könnte, die Evangelisten schreibend mit ihren Papieren auf dem Schoß darzustellen.7
Erst bei der Gotofredo Situla sitzen alle vier Menschen an einem Lesepult.8
Eine solche Entwicklung in der Darstellung von Schreibgewohnheiten in den frühen Jahrhunderten n. Chr. müsste logischerweise mit der Entwicklung der tatsächlichen, realen Utensilien und Möbel, die für das Schreiben zur Verfügung stehen, zusammenhängen. Oder anders ausgedrückt, man kann davon ausgehen, dass die KünstlerInnen einer solchen mittelalterlichen Ikonografie nicht nur bestehenden Konventionen folgten, sondern zeitgenössische Auffassungen einfließen ließen und zeitgenössische Objekte in ihre Werke integrierten, und das möglicherweise ganz unbewusst. Ein Mensch, der im 9. oder 10. Jahrhundert lebte und nur Mönche kannte, die an Lesepulten arbeiteten, wird wohl nicht hinterfragt haben, ob das schon immer so gewesen ist. Wenn die Pulte in der Realität immer beliebter wurden, kann man davon ausgehen, dass dies auch auf die Ikonografie zutraf.
Die Tatsache, dass die überwiegende Mehrheit der in der Ikonografie des 9. Jahrhunderts abgebildeten Lesepulte eindeutig geschnitzt und gedrechselt sind, deutet darauf hin, dass geschnitzte und gedrechselte Lesepulte im 9. Jahrhundert üblich waren. Doch auch wenn die abgebildeten Lesepulte des 9. Jahrhunderts zweifellos geschnitzt und gedrechselt sind, sie sind zweifellos statisch, die abgebildeten Schnitzereien und Drehungen sind rein dekorativ.
Und was ist mit den Schnitzereien auf der Mailänder Situla?
Für uns gibt es einige grundlegende Unterschiede zwischen den Lesepulten auf der Situla von Gotofredo und den Darstellungen des 9. Jahrhunderts, die darauf hinweisen, dass die abgebildeten Schnitzereien und Drehungen sehr funktional sind.
Erstens werden die Lesepulte auf der Gotofredo Situla in einem Rahmen gehalten. In den vorangegangenen ca. zweihundert Jahren wurden Lesepulte in Verbindung mit den vier Evangelisten immer mit frei stehenden einzelnen gedrehten Stangen dargestellt, wie auf den Abbildungen oben und unten deutlich zu erkennen ist. Die auf der Situla von Gotofredo dargestellten Stangen werden von einem Rahmen gehalten. Es handelt sich hier um eine neue Form des Rednerpults, eine neue Form des Schreibmöbels. Lassen wir für einen Moment das Rednerpult weg und werfen einen Blick auf den Entstehungsprozess der Situla: Es handelt sich um eine Miniaturschnitzerei aus Elfenbein. Bei einer derart anspruchsvollen Technik nimmt man keine zusätzliche Arbeit auf sich, will aber zu einer realistischen Darstellung gelangen. Die Schnitzerei auf der Situla ist phänomenal, der Schnitzer hatte eindeutig ein Auge fürs Detail und wusste, wie er diese Details übersetzen konnte. Da wäre zum Beispiel die Tatsache, dass der vordere Pfosten des Pultes kürzer ist als der hintere und so die Schrägstellung der Pultplatte stabilisiert. Ein solches Detail hätten die meisten KünstlerInnen des 10. Jahrhunderts nicht in Betracht gezogen. Der Schnitzer verstand seine Kunst. Wir würden also behaupten, dass wenn er mit einem frei stehenden einfach gedrehten Pfosten hätte auskommen können, er es dabei belassen hätte. Aber der Schnitzer hat diesen Pfosten in einen Rahmen gesetzt. Warum?
Genauer gesagt hat der Künstler bei drei der vier Darstellungen diese Variante gewählt. Während Matthäus und Markus mit einem ähnlichen Rednerpult wie dem oben abgebildeten von Johannes beschäftigt sind, ist das von Lukas von einer anderen Art. Bei Lukas handelt es sich vielmehr um einen freistehenden einfach gedrehten Mast, zu dem wir leider kein Bild finden, das wir veröffentlichen oder verlinken könnten9. Relevant ist in diesem Zusammenhang aber auch nur die Tatsache, dass Lukas' Pult anders ist. Denn so wird deutlich, dass die anderen drei Pulte absichtlich mit einem Rahmen dargestellt wurden.
Die geschnitzte Stange wird zudem nicht nur in einem Rahmen gehalten, sondern durch zwei Streben hindurchgeführt. Dies könnte einfach als nützlich für die Stabilität angesehen werden, hätte aber eine zusätzliche Bedeutung, wenn es sich bei der Stange um eine Schraube handelt. Im 10. Jahrhundert wurden Schrauben von Hand aus Holz gefertigt und unabhängig von der Geschicklichkeit des jeweiligen Handwerkers werden sie immer ein wenig nachgegeben haben. Die doppelte Verstrebung hilft also, Unstimmigkeiten in der horizontalen Ebene auszugleichen, während sie gleichzeitig hilft, das Gewicht des Buches zu tragen und so für Unterstützung in der vertikalen Ebene sorgt. Eine solche Konstruktion käme also genau dann infrage, wenn die Schnitzereien an der Stange eine Funktion hätten. Wenn man so will, folgt hier bereits die Form der Funktion.
Das entscheidende Argument, das für eine Höhenverstellbarkeit spricht, ist für uns aber das dritte: Die Art und Weise, wie in den Darstellungen von Matthäus, Markus und Johannes der geschnitzte Stab über die untere Strebe hinausgeht. Es gibt z.B. eine Darstellung aus dem 11. Jahrhundert, die ebenfalls einen geschnitzten Stab, der innerhalb eines Rahmens platziert ist, zeigt. Die Unterseite dieses Stabes ruht jedoch auf der unteren Strebe, so dass die Strebe offenbar eine rein stützende Funktion hat. Darüber hinaus weist die Stange eine Doppelhelix auf, die nicht zu einer Schraube passt, sondern eher eine Ranke oder eine ähnliche christliche Symbolik implizieren würde. Bei der Darstellung auf der Gotofredo Situla handelt es sich nicht nur um eine einzelne Helix, sie geht zudem durch die untere Strebe hindurch. Für den Schnitzer bedeuten diese Details eine Menge zusätzlicher Arbeit. Es handelt sich um Details, die, wenn sich der abgebildete Stab in der Realität dreht und es dem Künstler um eine möglichst realistische Darstellung ging, absolut notwendig sind.
Und auch wenn wir keine tatsächlichen Beweise, keine Lesepulte aus dieser Zeit, finden konnten, würden wir ausgehend von der obigen Position Folgendes behaupten: Die auf der Situla abgebildeten Pulte bestätigen, dass das höhenverstellbare Schreibpult im Mailand des späten 10. Jahrhunderts bekannt war und eingesetzt wurde. Wir hoffen sehr, dass eines Tages jemand einen tatsächlichen Beweis für diese These finden wird.
Wenn die Rednerpulte auf der Situla von Gotofredo tatsächlich höhenverstellbar sind, dann stellt sich natürlich die Frage, wer auf diese Idee gekommen ist, und wo? Die Schraube war seit der Zeit der Römer bekannt und wurde zum Beispiel in Pressen für Olivenöl und Wein verwendet, Geräte, die sich zwangsläufig heben und senken. Der Schritt zu einem Schreibpult, das sich hebt und senkt ist also eher kurz. Doch wie so oft muss zuerst jemand die Notwendigkeit eines solchen sich hebenden und senkenden Pultes erkannt haben. Und das ist gar nicht so einfach.
Das Wer, Wo und Warum ergibt sich hier nur aus einer Menge Mutmaßungen, ein bisschen Fantasie und Vorstellungskraft. Schaut man sich die christliche Ikonografie des 8., 9. und 10. Jahrhunderts an, erkennt man nicht nur eine Entwicklung in der Art und Weise, wie die Evangelisten schrieben, sondern eben auch eine Entwicklung der Konstruktion des Mobiliars, das sie benutzten. Das heißt, um es großzügig zu verallgemeinern, in Werken wie dem Aachener Evangeliar oder dem Lorscher Evangeliar sind Sitz, Schemel und Lesepult als einzelne Objekte dargestellt. In Werken wie dem Ebo-Evangeliar oder dem Evangeliar von Franz II. wiederum scheint Matthäus an einem einzigen Gerät mit Sitz, Fußstütze und, in einer Ecke befestigt, dem Rednerpult zu sitzen.
In ähnlicher Weise scheinen auch alle vier Lesepulte einschließlich des statischen Lesepults von Lukas auf der Gotofredo Situla fest auf der Struktur montiert zu sein, auf der die Evangelisten sitzen. Sitz und Lesepult sind an einer kleinen erhöhten Plattform, einem Arbeitsplatz, befestigt. Dies könnte auf einen Übergang von mobilen Objekte zum Schreiben zu statischen, fest eingebauten Konstruktionen hindeuten und damit auf eine stärkere Institutionalisierung des Berufs des Schreibers oder der Schreiberin. Solche Konstruktionen könnten zudem, falls sie tatsächlich existierten, als Vorläufer des zeitgenössischen Einzelarbeitsplatzes oder auch der Kirchenbank bzw. des Einzelschreibtisches in der Schule betrachtet werden.
So könnte man also die ansonsten haltlose These aufstellen, dass man im Laufe des 9. oder 10. Jahrhunderts in der einen oder anderen Schreibstube auf die Idee kam, die Lesepulte höhenverstellbar zu konstruieren, um auf die Statur der Mönche einzugehen und ihnen individuell die Arbeit zu erleichtern. Möglicherweise wurde in den neu geschaffenen institutionalisierten Arbeitsräumen auch eine Art "Hotdesking" praktiziert. Die technischen Vorraussetzungen dafür waren gegeben. Ein naheliegender Schritt also, der nur noch gefunden werden musste. Ein solches System hätte es erlaubt, die Pultplatten zu drehen, sie in einem frei wählbaren Winkel zu positionieren. So hätten die SchreiberInnen nicht nur in einem für die anstehende Aufgabe angemessenen Abstand zum Pult sitzen können, sie hätten diese Position auch in Reaktion auf z. B. wechselnde Lichtverhältnisse anzupassen vermocht. Eine solche Theorie beruht natürlich auf dem Übertragen zeitgenössischer Auffassungen auf historische Kontexte und das ist selten eine gute Idee. Trotzdem handelt es sich um eine verlockende These, die, sollte sie zutreffend sein, einen weiteren Beweis dafür liefern würde, dass der Funktionalismus kein Konzept des 20. Jahrhunderts ist.
Beweise haben wir wie gesagt keine. Aber wir behaupten, dass diese Lesepulte, wie auch immer, im Laufe des 9. oder 10. Jahrhunderts mit einer eher funktionalen als dekorativen, geschnitzten, schraubenartigen Stützstange versehen wurden, und so höhenverstellbar wurden. Wäre das unzutreffend, würde die Situla von Gotofredo alle vier Evangelisten mit einem ähnlichen Pult wie dem des Lukas darstellen. Wir lehnen uns hier weiter aus dem Fenster, als uns lieb ist. Ob das jetzt daran liegt, dass wir uns absolut sicher sind, oder daran, dass uns einfach der Gedanke zu gut gefällt, dass die Schreibtische der Situla höhenverstellbar sind, ist nicht klar. Wir vermuten Letzteres, hoffen aber auf Ersteres.
Allerdings fühlen wir uns in unserer These bestärkt, wenn wir uns die Entwicklungen anschauen die auf die Schaffung der Situla Gotofredo folgten.
Das betrifft zuminidest die Entwicklungen des 15. Jahrhunderts.
Für das 11., 12. oder 13. Jahrhundert können wir wenig bis gar keine Belege für ein höhenverstellbares Rednerpult, bzw. überhaupt für höhenverstellbare Möbel mit Schrauben/Spindeln finden. Dass wir nichts finden können, bedeutet aber nicht, dass es keine Beweise gibt, denn es besteht ein feiner, aber fundamentaler Unterschied zwischen keinem Beweis und keinem bekannten Beweis - vielleicht suchen wir also nur an den falschen Stellen, in den falschen Manuskripten oder Museen. Wir können auch weder Latein noch Aramäisch lesen, was notwendig wäre, um einen flüchtigen Hinweis auf höhenverstellbare Möbel zu entdecken. Außerdem haben wir keinen Zugang zu allen relevanten Quellen. Viele sind online nicht einsehbar und befinden sich in Ländern, die wir derzeit nicht besuchen können. Wir haben auch nicht ein Jahr oder noch mehr Zeit für eine vollständige Untersuchung und müssen unsere Suche also abkürzen.
Vielleicht haben sich höhenverstellbare Pulte aber auch einfach nicht durchgesetzt; vielleicht war man zu konservativ; vielleicht lehnte der vorherrschende Geschmack solche technischen Spielereien ab; vielleicht waren geeignete Handwerker rar; vielleicht waren sie zu teuer; vielleicht war dieses Konzept ein Spätzünder, so wie Stahlrohrsitzmöbel, die trotz ihrer heutigen Popularität in den 1920er und 30er Jahren nicht besonders beliebt waren, oder der Centripetal Spring Chair, der in den späten 1840er Jahren entwickelt wurde, in den späten 1850er Jahren verschwand und 140 Jahre später als multifunktionaler Bürostuhl wieder auftauchte. Möbeldesign entwickelt sich, im Verhältnis zu Möbeln, relativ langsam. Und auch wenn vierhundert Jahre selbst für die Entwicklung von Möbelstandards eine wirklich lange Zeit wären, stoßen wir im vierzehnten Jahrhundert möglicherweise auf eine Wiederentdeckung des höhenverstellbaren Schreibtisches.
Möglicherweise...
J. W. Clark merkt an, dass die Bibliothek Karls V. zwischen 1364 und 1368 vom Palais de la Cité in den Louvre verlegt wurde und, dass diese Bibliothek "drehbare Pulte" enthielt.11 Worum es sich dabei genau handelte, ist nicht überliefert, J. W. Clark postuliert jedoch, dass sie dem ähneln könnten, was Percy Macquoid und Ralph Edwards als "Wheel Desk" bezeichnen.12 Ein Objekt, das in einer Ausgabe von Boccaccios "Des Cas des nobles hommes et femmes" aus dem späten 15. Jahrhundert abgebildet: Boccaccio und Petrarca werden an einem achteckigen(?) Schreibtisch gezeigt, der sich eindeutig auf einer zentralen Spindel hebt und senkt13. Man könnte dieses Objekt auch als eine Adaption der drehbaren, aber nicht höhenverstellbaren, achteckigen buddhistischen Bücherschränke aus dem 6. Jahrhundert betrachten, die in unserer Radio Smow Bookcase Playlist erwähnt wurden. Die Darstellung von Boccaccio sitzend und Petrarca stehend veranschaulicht wenn auch vielleicht ungewollt die Sitz- und Steh-Funktionalität eines solchen Objekts sehr schön.
Ob Karl V. ein Jahrhundert früher auch ein solches Objekt besaß, ist unklar; eine Illustration von Jean de Salisbury aus dem Jahr 1372, siehe oben, zeigt jedoch Karl V. in der besagten Bibliothek des Louvre. Er sitzt neben einem Objekt, das über ein Bücherlager im Sockel, ein Stehpult und in der Mitte über einen runden Tisch verfügt, der sich womöglich drehen kann oder auch nicht. Wenn es sich bei diesem Objekt, wie wir annehmen, um das von Clark erwähnte Objekt handelt, dann wäre der Tisch ein Karussell, aber dem Bild von Jean de Salisburys nach zu urteilen, nicht höhenverstellbar.
Im Gegensatz zu zwei sehr ähnlichen Objekten aus dem frühen 15. Jahrhundert: Das eine, abgebildet in einem Exemplar von Boccaccios "De casibus virorum illustrium" von 1420, das sich im Besitz der Bodleian Library in Oxford befindet, ist offensichtlich ein höhenverstellbares Bücherkarussell und damit sowohl ein höhenverstellbarer Schreibtisch als auch ein höhenverstellbarer Beistelltisch. Ein weiteres Genre, das dringend der Wiederentdeckung bedarf.
Das zweite, siehe unten, ist in Petrus Comestors Bible historiale von ca. 1415-1420 abgebildet. Hier ist nicht nur das Stehpult höhenverstellbar, die Spindel, auf der es montiert ist, reicht bis zum Sockel, was bedeutet, dass auch das sechseckige Karussell höhenverstellbar ist.
Man könnte denken, dass ein Objekt, das in den ersten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts dargestellt wurde, in den letzten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts bekannt gewesen sein muss. Das höhenverstellbare Bücherkarussell / der höhenverstellbare Schreibtisch war also womöglich im 14. Jahrhundert bekannt. Das Pult von Karl V. könnte demnach höhenverstellbar gewesen sein, und wurde einfach nicht deutlich als solcher abgebildet.
Ab dem 15. Jahrhundert finden sich schließlich tatsächliche Belege für höhenverstellbare Rednerpulte.14 Das MAK Wien hat in seiner Fotosammlung ein Bild eines höhenverstellbaren Rednerpults aus dem 15. Jahrhundert aus einer Kirche in Herrieden bei Nürnberg, das viel kunstvoller ist als das der Mailänder Situla, aber die gleiche doppelte Verstrebung aufweist und in vielerlei Hinsicht eine frei stehende Version des integrierten Situla-Rednerpults ist. Das Antiquitätenmuseum der Bibliotheca Alexandrina in Alexandria besitzt wiederum in seiner Sammlung ein Rednerpult aus dem späten 16. Jahrhundert, das nicht nur die doppelte Verstrebung aufweist, sondern auch die Aufbewahrungskästen aus der Bibliothek Karls V.
Bereits im späten Mittelalter wurde die Höhenverstellung über eine Schraube/Spindel in Rednerpulten und anderen Möbelstücken praktiziert, die als Vorläufer der heutigen Schreibtische gelten können. Irgendwo muss ein solches Konzept entstanden sein. Und warum nicht im Mailand des 10. Jahrhunderts?15
Das entspricht natürlich mal wieder sehr einem christlich universalen, eurozentrischen Verständnis. Wir haben in anderen Kontinenten und Kulturen nach einer alternativen Geschichte gesucht - aber ohne Erfolg. Das mag aber eher an unseren begrenzten Kompetenzen als an der Wahrheit liegen. Wir würden uns wirklich freuen, wenn eine alternative Geschichte entdeckt würde. Fest steht jedoch: Wo auch immer die Idee herkam und wer auch immer zuerst die Notwendigkeit erkannt und eine Lösung entwickelt hat, das höhenverstellbare Rednerpult war bekannt und wurde im Mailand des 10. Jahrhunderts benutzt.
Bevor dieses Wissen und Verständnis offenbar verloren ging.
Viktorianische höhenverstellbare Schreibtische sind seltener als mittelalterliche, selbst unter amerikanischen Patentmöbeln, und das, obwohl, wie bereits erwähnt, die Vorteile der Bewegung beim Sitzen bereits Mitte des 19. Jahrhunderts bekannt waren. Wenn wir nicht etwas sehr Offensichtliches übersehen, waren höhenverstellbare Schreibtische auch kein Thema, mit dem sich die Funktionalisten Anfang des 20. Jahrhunderts übermäßig beschäftigt haben, obwohl die vielen ArchitektenInnen und DesignerInnen unter ihnen davon profitiert hätten. Außerdem handelt es sich bei diesem Konzept um ein nahezu lehrbuchmäßiges Beispiel für eine funktionale Lösung. Das früheste Patent für einen höhenverstellbaren Schreibtisch, das wir finden können, stammt aus dem Jahr 195616. In seinem Text von 1970, der uns mit la Situla Gotofredo bekannt machte, spricht Bert S. Hall nur davon spricht, dass die auf ihr abgebildeten Möbel Vorläufer des drehbaren Bücherregals sind - höhenverstellbare Schreibtische waren also auch im Los Angeles der späten 1960er Jahre eindeutig kein Thema. Erst im 21. Jahrhundert ist das Interesse am höhenverstellbaren Schreibtisch wirklich aufgeblüht, obwohl die Idee seit dem 10. Jahrhundert bekannt ist.
1Bert S. Hall, A Revolving Bookcase by Agostino Ramelli, Technology and Culture, Vol. 11, No. 3, July 1970, footnote 8, page 391-392
2For more photos and descriptions see https://www.restituzioni.com/opere/situla-di-gotofredo/ (accessed 07.09.2020)
3Paola Venturelli, La situla eburnea di Gotofredo del Duomo di Milano: segnalazione di quattro copie accessible via http://www1.unipa.it/oadi/oadiriv/?page_id=767 (accessed 07.09.2020)
4Eric Mercer, Furniture 700 - 1700, Weidenfeld, Nicolson, London, 1969
5Penelope Eames, Furniture in England, France and the Netherlands from the twelfth to the fifteenth century, Furniture History Society, London, 1977
6Bruce M. Metzger, When did scribes begin to use writing desks, in Bruce M. Metzger, Historical and Literary Studies. Pagan, Jewish and Christian, E.J. Brill, Leiden, 1968. In addition one must add that the move wasn't purely towards lecterns, but also, for example, knee boards, see, for example, Mark as depicted in the Quattuor Evangelia ca. 791-810 CE, note also the ink stand is atop a turned pole.
7ibid
8This is a big claim. And not one we're certain we can substantiate. For all given our general ignorance of early medieval iconography. But we're going with it. And expect to be proved wrong. And would also note that in the Gospels of François II from 850-875 three of the four are sat at lecterns, John is writing on his lap, but a lectern is standing next to him.
9There is an image in Paola Venturelli's above quoted article, but it isn't that clear, while at https://www.restituzioni.com/opere/situla-di-gotofredo/ there is an image of Luke illuminated from within which allows the form to be understood when not fully seen. The best images we know of are in Rossana Bossaglia and Mia Cinotti [Eds.], Tesoro e Museo del Duomo. Volume 1 Antiquarium: tesoro e arti suntuarie, Museo del Duomo, Milan 1978 Plates 88 - 91
10The more we've been developing this post, the more an alternative, darker, position has arisen. La Situla del vescovo Gotofredo is recorded as being in the Duomo since 1400. And before? Although believed to have been in the Basilica of Sant'Ambrogio where Gotofredo was based before becoming Archbishop of Milan in 974, as Mia Cinotti notes, "a quick glimpse of the S.Ambrogio archives revealed no trace of either its ancient presence or its transfer to the Duomo", see Rossana Bossaglia and Mia Cinotti [Eds.], Tesoro e Museo del Duomo. Volume 1 Antiquarium: tesoro e arti suntuarie, Museo del Duoma, Milan 1978. We don't want to cast doubt on its provenance, not least because that really would cause part of our soul to wither, and as far as we are aware no one else is casting doubt; but given how far ahead of its time it appears to be, could it also be more recent than 10th century? Could the lecterns be the evidence for that? That they, possibly, simply couldn't have existed in that form in the tenth century and thus confirm a more recent creation of the Situla? That it's less a case of the Situla confirming the lecterns existed in the 10th century, as the lecterns confirming the Situla didn't exist in the 10th century? We do hope not, that would be awful, but the thought simply won't leave us.........
Es wäre einfach zu schön um wahr zu sein und ein echter Meilenstein des Büromöbeldesigns, wenn eine so einfache, logische, funktionale Lösung für ein so komplexes Problem all die Jahrhunderte still und leise in Mailand11 existiert hätte. In jenem Zentrum der italienischen Möbelindustrie und des italienischen Möbeldesigns, das einmal im Jahr mit der Mailänder Möbelmesse zum Urlaubsdomizil der internationalen Designmöbelindustrie wird. Die Gotofredo Situla ist dann jedoch im Dom untergebracht und nicht in jenen profaneren Mailänder Kathedralen der MöbeldesignerInnen...