Am 6. März 1927 wurde im Grassi Museum Leipzig die Ausstellung "Europäisches Kunstgewerbe" eröffnet. Dabei handelte es sich nicht nur um eine Präsentation zeitgenössischer angewandter Kunst aus Europa, sondern auch um die Eröffnungsausstellung des (fast fertigen) neuen Standorts des Museums am Leipziger Johannisplatz. Mit der Ausstellung "Spitzen des Art déco" präsentiert das Grassi Museum für Angewandte Kunst Leipzig nicht nur europäisches Art-déco-Porzellan, es erinnert vor allem auch an das Art-déco-Erbe des Museumskomplexes und an die Lebendigkeit, die Farben und das Getöse der 1920er Jahre.
Wenn man sich dem Komplex des Grassi Museums von der Leipziger Innenstadt aus nähert, stößt man auf ein eindeutiges und einzigartiges Art-déco-Indiz: Die goldene Ananas, ein 11 Meter hohes Zickzack-Gebilde aus Goldkupfer, das das ansonsten nüchterne, sachliche Bauwerk von Hans Voigt & Carl William Zweck aus der Mitte der 1920er Jahre krönt. Der sachliche Charakter wurde im Inneren fortgesetzt und durch Josef und Anni Albers Glasfenster von 1926, die sich in ihrer geometrischen, monochromen Reduktion seitlich der ebenso zurückhaltenden Haupttreppe erheben, hervorgehoben. Die Metallleuchten stellen die einzige Abweichung von der Sachlichkeit des Innenraums dar: Sie beleuchten besagte Treppe und greifen die Form des Ananasgebildes auf dem Dach wieder auf.
Diese Referenz auf die Dachdekoration wurde in der sogenannten Pfeilerhalle zur gestalterischen Maxime erhoben und maximal verstärkt. Die Pfeilerhalle ist ein Raum, der die BesucherInnen bei seiner Eröffnung 1927 mit einer Kakofonie aus Farbe, Licht und Zickzack-Formen begrüßte. Er wurde durchaus als physische Verkörperung jenes lebendigen Aufschreis der 1920er Jahre entworfen, in denen die europäische Gesellschaft nach den Schrecken und Entbehrungen des Ersten Weltkrieges wieder auf die Beine kam. Ein Aufschrei voller Hoffnung auf eine strahlende neue Zukunft für Europa.
Die Kakofonie aus Farbe, Licht und Zickzack-Formen der Pfeilerhalle hat nichts von ihrer Kraft verloren. Sie verkörpert heute nicht nur den festlichen Tumult und das Geschrei des Art déco, sondern erinnert auch daran, dass es neben der nüchternen Sachlichkeit der 1920er Jahre, neben den berühmten weißen Kuben und gebogenen Stahlrohren der modernistischen Funktionalisten, auch andere Kunst- und Designströmungen wie den Surrealismus und Art déco gab.
Diese Überlegungen und die Architektur der Pfeilerhalle werden durch die Ausstellung "Spitzen des Art déco" ergänzt und erweitert.
Mit rund 500 Objekten von mehr als 50 europäischen Herstellern und Leihgaben von drei Hamburger Sammlern ist "Spitzen des Art déco" sowohl eine prägnante Einführung zu Porzellan des frühen 20. Jahrhunderts in Europa als auch eine Einladung, dieses Porzellan im breiteren historischen Kontext des frühen 20. Jahrhunderts zu betrachten.
Die Präsentation überzeugt durch die Vielfalt der ausgestellten Objekttypen, wie beispielsweise Mokkatassen, Vorratsgläser, Servierteller oder Vasen. Darunter einige wenige Vasen, deren selbstbewusste, nackte, weibliche Formen daran erinnern, dass die 1920er Jahre den Beginn einer sexuell offeneren Gesellschaft markierten. Diese Einführung zum Porzellan des 20. Jahrhunderts und die damit verbundenen weiterführenden Reflexionen profitieren darüber hinaus von der Vielfalt der Gestaltungsansätze und -auffassungen in der Ausstellung.
Um einer erschöpfenden Diskussion über die unzähligen dekorativen Variationen und Positionen in "Spitzen des Art déco" zu entgehen, können die ausgestellten Objekte unter Inkaufnahme von Ungenauigkeit in drei großen Gruppen betrachtet werden. Erstens jene Objekte, die mit "folkloristischen" Bildern gestaltet sind. Dabei handelt es sich um Motive aus unterschiedlichen Bereichen. Dazu gehören Märchen, die Symbolik des Tierreichs oder der Exotismus fremder, nicht europäischer Kulturen, der sich vor allem auf China, Indien, die Länder des Orients und zum Teil auf Japan bezog. Also auf Länder, die die KünstlerInnen und GestalterInnen des Jugendstils inspiriert haben. Die zweite Gruppe umfasst Gegenstände, die in ihrem Ausdruck sehr viel abstrakter sind, darunter Objekte wie die drei Krüge von Rosenthal, deren Dekoration man mit einer Übung in freier Geometrie und Farbtheorie verwechseln könnte, oder die Objekte der Sammlung Maria, ebenfalls von Rosenthal, die einen Fasan darstellen, der vom Raum befreit zu sein scheint. Drittens zeigt die Ausstellung sehr rationale, zurückhaltende, geometrische Werke, die Farbe sowohl als funktionelles als auch dekoratives Element einsetzen oder die den Eindruck einer Dekoration verweigern und dabei eher jenem modernistisch-funktionalistischen Ansatz der 1920er Jahre entspringen. Dabei bleiben sie den weißen Kuben und polierten Stahlrohren jedoch grundsätzlich sehr entgegengesetzt.
Die Objekte werden durch kurze zweisprachige (deutsche und englische) Beschreibungen einiger der am häufigsten vertretenen Hersteller, darunter die Fraureuther Porzellanfabrik, Lorenz Hutschenreuther oder Jaeger & Co, ergänzt. Hinzu kommen kurze Überlegungen zu Art déco und zum Kontext, in dem die ausgestellten Objekte entstanden sind. Damit ist "Spitzen des Art déco" weniger eine Ausstellung, die erklärt und erforscht, sondern vielmehr eine, in der es den BesucherInnen überlassen bleibt, ihre eigenen Entdeckungen und Überlegungen anzustellen. Und das ist alles andere als eine Beschwerde.
Aufmerksam wurden wir neben vielen, vielen anderen Werken besonders auf zwei Gefäße mit einem Engel als Dekoration. Das eine stammt von C & E Carstens aus Deutschland und ist Anfang der 1920er Jahre entstanden, das andere wurde ab ca. 1930 von der schwedischen Karlskrona Porslinsfabrik produziert. In ihrer Ähnlichkeit lassen die Gefäße vermuten, dass das schwedische Modell vom deutschen Modell inspiriert war. Beziehungsweise bestätigt das die Auffassung, dass das schwedische Design von Anfang des 20. Jahrhunderts stark von deutschem Design derselben Zeit beeinflusst war. Hinzu kam ein Kaffeeservice von Chabrol Frères et Poirier, Limoges, das 1925 auf der Pariser "Exposition internationale des Arts décoratifs et industriels modernes" mit einem 1. Preis ausgezeichnet wurde, jene Ausstellung, die auf so schonungslose Weise traditionelle Auffassungen von Architektur und Design denen der internationalen Avantgarde gegenüberstellte. Wie zahlreiche weitere Beispiele in der Ausstellung, macht auch das Service mit seinem eigenwilligen Verständnis von Geometrie sehr deutlich, dass in den 1920er Jahren die Form nicht immer gewissenhaft der Funktion folgte, sondern oft ganz eigene Weg ging. Darüber hinaus haben wir uns intensiv mit den verschiedenen Objekten der Gothaer Künstlerin Ilse Pfeffer aus den späten 1920er Jahren auseinandergesetzt. Werke, die mehr oder weniger zu der Zeit entstanden sind, als Marianne Brandt im Ruppelwerk Gotha für das Design verantwortlich war. Vor allem, wenn man diese Arbeiten im Zusammenhang mit den Arbeiten betrachtet, die Ilse Pfeffer wenige Jahrzehnte zuvor realisiert hat, wird klar, dass die Ausstellung "Inspired by Bauhaus - Gotha Experiences Modernity" im KunstForum Gotha wohl um ein weiteres Kapitel hätte ergänzt werden müssen. Dazu hätte das KunstForum Gotha allerdings um eine vierte Etage aufgestockt werden und der erste Teil des Ausstellungstitels hätte entfallen müssen.
Dann ist/war da ein anonymes rosafarbenes Teeservice mit silbernen Details aus der Zeit um 1930, interessant einerseits wegen seines kühnen Rosas, andererseits wegen des mehr oder weniger vollständigen Fehlens von Dekoration. Hinzu kommt, dass dieses Service komplett durchgefärbt ist, während der weitaus größte Teil der in "Spitzen des Art déco" ausgestellten Werke handbemalt ist.
Damit macht dieses Teeservice auch einen grundlegenden Unterschied zwischen den Exponaten in "Spitzen des Art déco" aus den späten 1920er bzw. frühen 1930er Jahren und den Ausstellungsstücken in "Decoration as Trespass?" im Werkbundarchiv – Museum der Dinge Berlin aus derselben Zeit deutlich, die mit ihrem Spraydekor, ihrem industriellen Farbauftrag, ihren Mustern und Abstraktionen einen ganz anderen Ansatz verfolgen. Der zweite grundlegende Unterschied: Während in Berlin (überwiegend) Steingut gezeigt wird, ist in Leipzig Porzellan zu sehen.
Zwei kleine, aber wichtige Unterschiede, die sich nicht zuletzt auf den Endpreis der Objekte auswirkten. Vor allem aber zwei Unterschiede, die sehr unterschiedliche Aspekte des Objektdesigns des frühen 20. Jahrhunderts hervortreten lassen, und die für zwei sehr unterschiedliche Auffassungen von Design im frühen 20. Jahrhundert stehen. Auffassungen, die wiederum Diskussionen und Debatten des frühen 20. Jahrhunderts prägten, nicht zuletzt die zwischen BefürworterInnen des Handwerks und BefürworterInnen der industriellen Produktion.
Diese historischen Diskussionen und Debatten stehen bei "Spitzen des Art déco" zwar nicht im Vordergrund, sie sind aber sehr stark in den Entstehungsprozessen der ausgestellten Objekte verankert und spiegeln sich so im Dialog zwischen den Objekten und dem Kontext, in dem sie präsentiert werden, wider. Die Ausstellungsobjekte stehen nämlich nicht nur in Beziehung zur Pfeilerhalle, sondern treten mit ihr und ihren Nachbarräumen in einen Dialog. Damit eröffnen sich Diskussionen und Debatten des frühen 20. Jahrhunderts, wie nicht zuletzt der Streit zwischen BefürworterInnen des Ornaments und BefürworterInnen der unverfälschten Form.
Wie gesagt, es ist nicht so, dass solche Diskussionen und Debatten bei "Spitzen des Art déco" im Vordergrund stehen. Das würde eine andere Ausstellung erfordern, die Keramikobjekte unterschiedlicher Positionen einander direkt gegenüberstellt und einen Dialog zwischen Keramikobjekten unterschiedlicher Positionen herstellt. Bei "Spitzen des Art déco" geht es um Porzellanobjekte mit ähnlicher Positionierung, auch wenn ähnliche Gestaltungsauffasungen natürlich sehr unterschiedliche Ausdrucksformen finden. Es handelt sich damit um eine Schau über die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Objekten, die Parallelen zwischen dem, was verschiedene Hersteller realisiert haben, und die Haltungen, die sich daraus ableiten lassen.
Alles in allem eine Präsentation von kleinen Objekten in Vitrinen. Heißt das, eine Austellung mit schlechtem Konzept? Ganz im Gegenteil! Bei "kleine Objekte in Glasvitrinen" handelt es sich zwar selten um ein gutes Präsentationskonzept, oft ist diese Variante allerdings unumgänglich und im Kontext von "Spitzen des Art déco" ist sie mehr als passend: Während das Brandenburgische Landesmuseum für moderne Kunst in Cottbus als Präsentationsform für Keramik der 1920er Jahre sehr schöne Keramikgeschäfte nachbaute, verfügt Leipzig über diese wunderschöne Ausstellungshalle, die den Geist und Elan widerspiegelt, in dem die Werke entstanden sind. Errichtet wurde sie etwa 90 Jahre vor der Eröffnung von "Spitzen des Art déco", aber, so könnte man sagen, in weiser Voraussicht der Ausstellung.
So wird jetzt Porzellan in Vitrinen derselben Epoche präsentiert. Ausstellungsstücke und Vitrinen liefern so in ihrer Übereinstimmung und in ihrem melodischen, rhythmischen und harmonischen Kontrast zu allem, was außerhalb der Pfeilerhalle steht, eine prägnante Einführung in einen Bereich der Keramik des frühen 20. Jahrhunderts. So macht die Ausstellung deutlich, das Art déco nur ein Ausdruck des frühen 20. Jahrhunderts war, ein Aufbegehren der Farben und der Lebendigkeit gegen die rationale, zurückhaltende Sachlichkeit der Funktionalisten und eine positive, bejahende Bewegung der Hoffnung auf eine neue, helle Zukunft für Europa.
"Spitzen des Art déco" läuft bis Sonntag, den 11. Oktober im Grassi Museum für Angewandte Kunst, Johannisplatz 5-11, 04103 Leipzig.
Alle Infos gibt es hier: www.grassimak.de/spitzen-des-art-deco