Bauhaus | Designer | Hersteller | Midgaard | Thonet
"Es wird vielfach angestrebt, für die Beleuchtung von Werkstatt- und Büroräumen die unmittelbare oder halbmittelbare Beleuchtung durch einzelne große Lichtquellen einzuführen, also nur mit einer reichlich allgemeinen Beleuchtung zu arbeiten. So angenehm diese Beleuchtungsart auch ist, wird die aber doch in vielen Fällen nur zum Teil befriedigen, weil sich gewisse Mängel bei ihr zeigen"1
Diese Meinung äußerte der deutsche Ingenieur Curt Fischer im Jahr 1926. Das Zitat erweist sich als rhetorisch, bedenkt man, dass sich Fischer bereits 1919 eine Lösung zur Behebung jener "gewissen Mängel" hatte patentieren lassen.
Wohin seine Überlegungen das zeitgenössische Lichtdesign geführt haben, wird in der Ausstellung "100 Jahre lenkbares Licht" im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg diskutiert und erforscht.
Wir würden es für eine Binsenweisheit (des Designs) halten, dass die besten Designs immer solche Objekte sind, bei denen man vergisst, dass sie jemals entworfen wurden. Objekte, die quasi mit dem Urknall entstanden sind, die in ihrer Funktionalität so intuitiv und logisch sind, dass man nicht über sie nachdenkt. Objekte, die einem Naturgesetz entsprungen zu sein scheinen, so einfach, dass man sich einfach nicht vorstellen kann, dass jemand sie erfinden, bzw. erfunden haben könnte.
Objekte wie die lenkbare Arbeits- bzw. Schreibtischleuchte. Ein allgegenwärtiges, logisches, einfaches Objekt, dass entgegen vorschneller Annahmen noch nicht seit Anbeginn der Zeit existiert. Und ein Objekt, dessen Geschichte nicht nur Reflexionen über den Zusammenhang zwischen Beleuchtung und unserer sozialen und ökonomischen Realität erlaubt, sondern auch Rückschlüsse über die Beziehung des/der Designers/Designerin zu dem von ihm entwickelten Objekt zulässt.
Oder anders ausgedrückt...
Die Geschichte des lenkbaren Lichts begann in mehrfacher Hinsicht im späten 19. Jahrhundert, im Kontext beginnender Massenelektrifizierung und natürlich im Zusammenhang mit der Erfindung der elektrischen Glühbirne - eines jener Objekte, das die Gesellschaft grundlegend veränderte, und das, damit seine Vorteile auch optimal genutzt werden können, neue Designlösungen erforderte. Während sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Persönlichkeiten wie Poul Henningsen damit beschäftigten, die Streuung von elektrischem Licht zu studieren um eine statische, blendfreie Beleuchtung für Wohnräume zu ermöglichen, beschäftigten sich Menschen wie Curt Fischer wiederum weniger mit der Streuung von Licht und vielmehr mit der Streuung unvermeidlicher Schatten, die beispielsweise auf einer Werkbank entstehen, die nur mit statischer Wand- oder Deckenbeleuchtung erhellt wird.
Ganz konkret ging es dabei um Schatten auf den Werkstattbänken von Curt Fischers Firma Industriewerk Auma Ronneberger & Fischer in Auma, Thüringen. Eine Firma, die Fischer - bis dahin Funkingenieur und angehender Flugzeugpilot - nach dem Tod seines Freundes Konrad Ronneberger im Ersten Weltkrieg übernahm, und die zu diesem Zeitpunkt vorwiegend Maschinen und Werkzeug für die Thüringer Porzellanindustrie produzierte. Offensichtlich waren die Werkstattbänke im Industriewerk Auma so ineffizient, unpraktisch und störend beleuchtet, dass Curt Fischer sich genötigt fühlte zu handeln.
Abgesehen von dem Anliegen das Licht dorthin zu lenken, wo es benötigt wird und störende Schatten zu vermeiden, ging es Curt Fischer vor allem darum eine Leuchte zu finden, die mit einer Hand und ohne Werkzeuge bedient werden kann. Seine Arbeiter sollten in der Lage sein das Licht nach Bedarf und ohne Unterbrechung des Arbeitsablaufes neu zu positionieren.
Curt Fischers ursprüngliche Lösung war eine Wandleuchte, die über einen Ziehharmonika-Mechanismus horizontal bewegt werden konnte. Auf einem kurzen Arm war wiederum ein verstellbarer Leuchtenkopf befestigt. Die Konstruktion ermöglicht es, die Leuchte zu schieben, zu ziehen, zu heben, zu senken und zu verdrehen - sie also nach Bedarf passend zu positionieren, und das mit nur einer Hand. Die Leuchte eröffnet unter dem Namen Midgard Nr. 110 die Ausstellung "100 Jahre lenkbares Licht".
Curt Fischers Leuchte erhellt darüber hinaus weitere Aspekte der Geschichte des lenkbaren Lichts: Erstens, dass ein Patent nicht dasselbe ist wie ein kommerziell erhältliches Objekt - der Weg vom Patent zur Leuchte war lang, vor allem wegen Materialknappheit und der wirtschaftlichen Situation in der Weimarer Republik. Zweitens, dass Fischer nach der Entwicklung seiner Lampe auch eine neue Firma namens Midgard gründete um sein Design zu produzieren und zu vertreiben. Und Drittens, dass Curt Fischer mit seinen Gedanken zu beweglicher Beleuchtung nicht allein war. Der dritte Punkt wird durch die sogenannte Gras Leuchte hervorgehoben. Diese wurde 1921 vom französischen Ingenieur Bernard-Albin Gras patentiert und ist neben der Midgard Nr. 110 ausgestellt. Die Gras Leuchte folgt zur Lösung desselben Problems einem anderen Ansatz. Damit handelt es sich um zwei in ihrer Form sehr unterschiedliche, aber konzeptionell ähnliche Leuchtendesigns von ca. 1920, die die BesucherInnen in die weitere Entwicklung und Geschichte des lenkbaren Lichts führen.
Die Ausstellung entfaltet sich auf Grundlage von sieben kurzen Kapiteln. Das Thema wird im direkten Kontext von Midgard diskutiert und erforscht: Zum Beispiel anhand von Objekten wie der Leuchte Nr. 113 aus dem Jahr 1924. Hier wurde die Wandhalterung des Ziehharmonika-Mechanismus durch eine am Schreibtisch anzubringende Klemme ersetzt. Der verstellbare Leuchtenkopf wurde wiederum an einem langen, beweglichen, gebogenen Leuchtenarm aus Stahlrohr befestigt. Die Leuchte Nr. 113 war zudem für das Wachstum und die Gründung des Unternehmens Midgard von entscheidender Bedeutung. Hinzu kommen analoge Themen wie Leuchten mit Federausgleichsystem - am populärsten vertreten durch George Carwardines Anglepoise Schreibtischleuchte -, Christian Dell und das Bauhaus, das sowohl bei der Entwicklung lenkbarer Leuchten als auch im Zusammenhang mit Midgard eine wichtige Rolle spielt.
Die Verbindungen zwischen Bauhaus und Midgard werden durch Fotos von Midgard Leuchten in Bauhaus-Projekten veranschaulicht, darunter die ADGB Bundesschule in Bernau. Hinzu kommt ein Brief von Walter Gropius an Curt Fischer, in dem Gropius Werbefotos von Midgard Leuchten anordnet. Dieser Exkurs macht auch deutlich, dass das Bauhaus in der Zwischenkriegszeit nicht allein in Deutschland, geschweige denn allein in Thüringen war. Was die Rolle des Bauhaus' konkret bei der Entwicklung von lenkbaren Leuchten angeht, rückt die Ausstellung Leuchten in den Vordergrund, die am Bauhaus entwickelt und von Kandem in Leipzig produziert wurden. Dazu gehören insbesondere die Kandem 934 Tischleuchte und die schwenkbare 830 Leuchte, die bisher dem Bauhäusler Heinrich Siegfried Bormann, der damals für die Zusammenarbeit zwischen Bauhaus und Kandem verantwortlich war, zugeschrieben wurden. Der Kurator und Initiator von "100 Jahre lenkbares Licht", Thomas Edelmann, ordnet sie stattdessen aber dem Goldschmied Werner Glasenapp zu, der nie am Bauhaus, sondern an der Staatlichen Akademie für Kunstgewerbe Dresden tätig war.
Hier wird auch deutlich, welche Probleme sich bei der Forschung in Bereichen wie dem Design der Zwischenkriegszeit auftun: Die Menge an detaillierten Primärinformationen ist oft sehr begrenzt. Deshalb verlässt man sich in hohem Maße auf Sekundärquellen. Was also einmal falsch notiert wurde, wird folglich immer wieder falsch weitergegeben. "100 Jahre lenkbares Licht" wirkt dem erfolgreich entgegen, indem die Ausstellung die Schlüsselrolle von Carl Fischer und Midgard bei der Entwicklung beweglicher Beleuchtung hervorhebt und Fischer und seiner Firma so die Anerkennung zukommen lässt, die ihnen die jüngere Geschichte bisher verweigert hat.
Nach einem Rundgang durch historische und einige sehr rostige Lichtdesigns endet "100 Jahre lenkbares Licht" mit einem Blick auf bewegliche Beleuchtung im zeitgenössischen Kontext. Dazu gehören Leuchten mit LED-Technik, wie die Roxxane Office von Rupert Kopp für Nimbus oder Lucy von Henk Kosche für Erco. Den Ausklang bildet die Präsentation von Patenten, die ausgewählte Meilensteine in der Entwicklung lenkbarer Beleuchtung markieren. Dazu gehören Curt Fischers Patent von 1919, die bereits erwähnte Anglepoise Leuchte, Jideé von Jean-Louis Domecq, Richard Sappers Tizio Leuchte für Artemide oder auch Stefan Diez' AYNO Leuchte für Midgard, die offiziell erst auf der IMM Cologne 2020 vorgestellt wurde.
Und das bringt uns zum Thonet Test.
Der Thonet Test wurde von uns selbst im Rahmen der Ausstellung "Sitzen - Liegen - Schwingen. Möbel von Thonet" im Grassimuseum Leipzig entwickelt. Es handelt sich um einen nicht genauer definierten Test, der im Wesentlichen der Frage nachgeht, ob eine Ausstellung, die einem bestimmten Hersteller gewidmet ist und/oder von einem in der Ausstellung vertretenen Hersteller gesponsert wird, nur eine Werbeveranstaltung für diesen Hersteller ist? Diesen Test müssen wir fast immer im Zusammenhang mit Thonet anwenden, da Thonet offenbar der einzige Möbel- oder Leuchtenhersteller ist, der sich umfangreiche, retrospektive Einzelausstellungen leisten kann. In Hamburg wenden wir diesen Test nicht nur in Bezug auf den Hersteller Midgard an, sondern eben auch in Bezug auf Thonet. Denn Thonet ist nicht nur Produktionspartner von Midgard, sondern neben Midgard auch Co-Sponsor der Ausstellung.
Den Test hat "100 Jahre lenkbares Licht" natürlich bestanden, sonst würden Sie das hier nicht lesen.
Bestanden hat die Ausstellung, weil es bei "100 Jahre lenkbares Licht" um eine Entwicklung der letzten 100 Jahre mit spezifischem Fokus auf einer ganz bestimmten Funktionalität der Beleuchtung geht. Hinzu kommt, wie wir in einem frühen Post bereits festgehalten haben, dass "Thonet so zentral für die Entwicklung des Möbeldesigns und der Möbelindustrie ist, dass es unmöglich ist, darüber zu reden, ohne dass der Name Thonet fällt." Ebenso lässt sich nicht über bewegliche Beleuchtung sprechen, ohne den Hersteller Midgard zu erwähnen. Auch wenn die Diskussion über Midgard im Zusammenhang mit beweglicher Beleuchtung relativ neu und Curt Fischer, wie oben erwähnt, in vielerlei Hinsicht eine Wiederentdeckung der letzten Jahre ist.
Bei der Ausstellung geht es außerdem nicht nur um Midgard. Es wird nicht versucht Midgard eine Vorrangstellung einzuräumen und es wird nicht behauptet, dass alle Entwicklungen seit 1919 auf Midgard zurückgeführt werden können. Curt Fischer wird sehr wohl als Pionier dargestellt. All das, was aus seinem Patent von 1919 und dem Patent von Bernard-Albin Gras von 1921 hervorgegangen ist, wird aber unabhängig von Fischer/Midgard betrachtet.
Auch wenn wir es wie immer begrüßen würden, wenn die vorgestellten Hersteller nicht an der Produktion einer Ausstellung beteiligt wären, verstehen wir doch, dass Ausstellungen Geld kosten. Wenn sich die Reedereien, Händler und Banken Hamburgs also nicht verpflichtet fühlen, das kulturelle Angebot ihrer Stadt zu unterstützen, dann muss es jemand anderes tun.
Abgesehen von der Vielfalt der ausgestellten Designansätze ist eine besondere Freude an "100 Jahren lenkbares Licht", dass man die Möglichkeit hat mit den Leuchten hautnah in Berührung zu kommen. Ohne Behinderung durch Glasscheiben, Rückwände oder Podeste werden sie in improvisierten Thonet Regalen präsentiert und lassen sich so aus allen Perspektiven ungestört betrachten. So lassen sich Ähnlichkeiten und Unterschiede sowie einzelne feine Nuancen der Werke erforschen und die Entwicklungen des vergangenen Jahrhunderts werden anhand der Ausstellungsstücke und Patente nachvollziehbar.
"100 Jahre lenkbares Licht" ist irgendwie auch eine Ausstellung für echte Designnerds. Wer in der Lage ist sich in den Details zu verlieren, wird nicht nur besser verstehen, wie sich das Lichtdesign im letzten Jahrhundert entwickelt hat und wie DesignerInnen und IngenieurInnen zu diesen Entwicklungen beigetragen haben. Eine präzise Betrachtung hilft auch Ideen des funktionalen Designs mal unabhängig von Bildern und stattdessen anhand kleiner Details nachzuvollziehen. Die lautstarke Bilderflut von Social Media weicht so der Ruhe einer detailversessenen, nerdigen Untersuchung.
Zu den Ausstellungsstücken, die unsere Aufmerksamkeit besonders auf sich zogen, gehörte die 6740 Klemmleuchte von Christian Dell für die Gebr. Kaiser aus den 1930er Jahren. Der parabolische, muschelförmige Reflektor, den Dell so sehr mochte, wird hier in einen viel industrielleren Kontext gestellt, als gewohnt. Außerdem macht die 6740 Leuchte wieder mal deutlich, dass zeitgenössische Schwanenhalsleuchten nur am Ende einer langen Entwicklungslinie stehen.
Das regelmäßige Auftreten von Kugellagergelenken in vielen der frühen Leuchten erinnerte uns an die Stehlampe Standing Task Light von Erik Wester, eines jener Projekte, von denen wir einst besessen waren. Normalerweise hätten wir die Standing Task Light nicht mit dem Design der Zwischenkriegszeit in Verbindung gebracht. Die intuitive Bewegungsmechanik, die uns bei der Standing Task Light so fasziniert hat, hängt aber durchaus mit den Ursprüngen beweglicher Beleuchtung zusammen.
Eine weitere Erkenntnis der Ausstellung ist, dass die Wandleuchte mit Ziehharmonikaarm nie wirklich in Gang kam. Was wohl daran liegt, dass das Konzept zwar logisch, einfach und intuitiv ist, sich in vielen Zusammenhängen aber als eher unpraktisch erwiesen hat. Mängel, die mit dem Übergang vom Ziehharmonikaarm der Nr. 110 zum gebogenen Stahlrohrarm der Nr. 113 überwunden wurden. Auch wenn dieser Übergang natürlich wieder neue Weiterentwicklungen nach sich zog.
Das offene und zugängliche Ausstellungskonzept begünstigt nicht nur das Studium der Leuchten, es nutzt den Raum intelligent und verleiht der Ausstellung so eine natürliche, gemächliche Leichtigkeit. Man kann sich Zeit nehmen die Ausstellung entspannt zu betrachten.
Dazu gehören nicht nur die über 40 ausgestellten Leuchten, sondern auch die verschiedenen Filmausschnitte und zahlreiche historische Dokumente, Fotos, Bücher usw., die dazu beitragen die Objekte in einen größeren Zusammenhang zu rücken. Darunter ein Text von Curt Fischer aus dem Jahr 1926, in dem er sich bemüht die höhere Energieeffizienz einzelner Werkbankleuchten zu unterstreichen. Dabei handelt es sich natürlich um ein Verkaufsargument eines Unternehmers im wirtschaftlichen Auf und Ab der 1920er Jahre, aber auch um eine nette Erinnerung daran, dass es beim Design nicht nur um funktionale oder ästhetische Aspekte, sondern auch um wirtschaftliche Faktoren geht.
In unserem Post zu "Ingo Maurer intim. Design oder was?" in der Neuen Sammlung München haben wir uns zahlreiche Facetten des Lichts angeschaut. Beweglichkeit gehörte dabei nicht zu den Charakteristika des Lichtes. Denn lenkbar wir Licht natürlich erst durch Lichtdesign. DesignerInnen haben also die Möglichkeit Licht in etwas Nützliches und Praktisches zu verwandeln. Diese Tatsache macht "100 Jahre lenkbares Licht" sehr elegant, kohärent und befriedigend deutlich.
"100 Jahre lenkbares Licht" läuft bis Montag, den 1. Juni im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, Steintorplatz 20099, Hamburg.
1Curt Fischer, Fragen der Innenbeleuchtung, Sonderdruck aus der Zeitschrift "das Eisenbahnwerk", Heft 4 05.02 1926, zu sehen bei "100 Jahre lenkbares Licht" im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg
Alle Details sind unter www.mkg-hamburg.de/100-years-of-positionable-light zu finden.