Geburtstage geben nicht nur Anlass zum Feiern, sondern auch zum Nachdenken über das vergangene Jahr. Vor allem an großen, runden Geburtstagen lässt man seine Erfahrungen, sein Leben und das, was man in den vergangenen Jahrzehnten gewonnen oder verloren hat, Revue passieren.
So oder so ähnlich ergeht es auch dem Vitra Design Museum, das im November 2019 seinen 30. Geburtstag feiert und den Anlass nutzt über die vergangenen drei Jahrzehnte des Designs nachzudenken.
Anfänglich diente das Vitra Design Museum im Wesentlichen als Archiv und Aufbewahrungsort der damaligen Möbelsammlung von Vitra-Geschäftsführer Rolf Fehlbaum. Dazu gehörte eine umfangreiche Sammlung von Thonet Bugholzmöbeln, die Fehlbaum in den 1980er Jahren erworben hatte. Zunächst zeigte das Vitra Design Museum sporadisch Ausstellungen: Den Anfang machte 1990 eine Ausstellung, die dem noch relativ unbekannten Möbeldesigner Erich Dieckmann gewidmet war. Es folgten Ausstellungen zum tschechoslowakischen Kubismus oder zur Geschichte des Freischwingers, bevor das Vitra Design Museum 1993 eine seiner wichtigsten Ausstellungen realisierte: "Citizen Office" präsentierte, wie der Untertitel der Ausstellung verdeutlicht, "Ideen und Notizen zu einer neuen Bürowelt". Eine Ausstellung, die das Vitra Design Museum nicht nur zu einem Ort des Experimentierens, der Forschung und Bildung werden ließ, sondern auch auf die Ausrichtung des Möbelherstellers Einfluss hatte. Ein Einfluss, der, wie wir bei "Vitra - Work" auf der Orgatec 2018 feststellen konnten, bis heute sehr stark spürbar ist.
Mit den Ausstellungen "Alla Castiglioni" (1997) und "The Work of Charles & Ray Eames" (1997/98) begann das Vitra Design Museum mit dem bis heute mehr oder weniger üblichen Rhythmus von zwei Ausstellungen pro Jahr. Ein Rhythmus, der in den vergangenen zwei Jahrzehnten sowohl thematische Ausstellungen wie unter anderem "Kid Size - Möbel und Objekte für Kinder", "Die Essenz der Dinge. Design und die Kunst der Reduktion", "Lightopia" oder "Pop Art Design" umfasste, aber auch zahlreiche Einzelausstellungen mit Designern und Architekten wie Joe Colombo, Isamu Noguchi, Balkrishna Doshi, Gerrit Rietveld, Louis Kahn und vielen anderen mit einschloss. Auf die erste Einzelausstellung des Vitra Design Museums, die einer weiblichen Gestalterin gewidmet ist, wird noch immer sehnsüchtig gewartet.
Seit November 1989 in einem Gebäude des kanadischen Architekten Frank Gehry untergebracht, erweiterte das Vitra Design Museum seinen Sitz im Jahr 2016 um das Schaudepot. Dabei handelt es sich um ein Werk der Schweizer Architekten Herzog & de Meuron, das neben einem kleinen Teil der ständigen Sammlung des Vitra Design Museums auch regelmäßige thematische Ausstellungen zu den Werken dieser Sammlung präsentiert. Eine dieser Ausstellungen ist "After the Wall. Design seit 1989".
Abgesehen vom Fall der Berliner Mauer, dem endgültigen Fall des Eisernen Vorhangs und dem Ende der Militärdiktaturen in Chile und Paraguay, markiert 1989 auch den Anfang vom Ende der Apartheid in Südafrika und des singulären Machtanspruchs der Kommunistischen Partei Chinas.
Darüber hinaus, und wie wir in der Ausstellung 1989 - Kultur und Politik im Nationalmuseum Stockholm bemerkt haben, war 1989 auch ein wichtiges Jahr in Bezug auf kulturelle Ausdrucksformen. Auch wenn die Entwicklung kultureller Ausdrucksformen immer fließend ist und sich Fixpunkte selten definieren lassen, würden wir behaupten, dass die späten 1980er Jahre das Ende der Postmoderne markieren, und dass sie die erste Blütezeit neuer Reflexionen über den kreativen, ästhetischen Ausdruck waren. Diese Veränderungen sind unbestreitbar mit der sich entwickelnden politischen Situation der späten 1980er Jahre verbunden - soziale, wirtschaftliche und technologische Veränderungen eingeschlossen. Und so wie man 1989 als politischen "Wendepunkt" verstehen kann, so kann man 1989 auch durchaus als einen kulturellen "Wendepunkt" bezeichnen. In jedem Falle hat das Jahr als Ausgangspunkt für eine Untersuchung des zeitgenössischen Designs absolute Gültigkeit. Nicht zuletzt, wenn es mit dem eigenen Geburtstag zusammenfällt - denn was sind Geburtstage, wenn nicht Momente der Besinnung.
In diesem Sinne präsentiert "After the Wall" eine Erzählung anhand von sechs Momentaufnahmen, die jeweils einen Zeitraum von fünf Jahren repräsentieren und Themen, Konzepte und Auffassungen von Design anschneiden, die deutlich mit dem jeweiligen halben Jahrzehnt in Verbindung stehen, allerdings insgesamt ein sehr fließendes und zusammenhängendes Panorama ergeben.
Den Anfang machen die sechs Jahre zwischen 1989 - 1995. "After the Wall" beginnt hier damit die Impulse der Postmoderne der 1980er Jahre hervorzuheben. Sowohl ganz direkt wie im Fall von Tejo Remy und seiner Kommode "You Can't Lay Down Your Memory" - hier im Sinne einer Reflektion über die Aneignungsstrategien der Postmoderne - als auch indirekter wie in Form von Jasper Morrisons minimalistischem Plywood Chair. Eine Arbeit, die, wie wir in Stockholm bemerkt haben, im alles andere als minimalistischen, wilden Westberlin des Jahres 1988 entstanden ist, und eine deutliche Veränderung ankündigt.
Diese Veränderung wird im folgenden Jahrzehnt bis 2005 durch eine, wenn man so will, Verfeinerung und Evolution der Postmoderne deutlich. Diese Verfeinerung und Evolution umfasst die formal-ästhetischen Ausdrucksformen, die Rolle des Designers, unsere Beziehung zu den uns umgebenden Objekten und die Relation von Form und Funktion gleichermaßen. Hinzu kommt die Entwicklung neuer Positionen, die durch neue Technologien und Materialien ermöglicht und durch gesellschaftliche Veränderungen befeuert wurden. Solche Entwicklungen werden bei "After the Wall" anhand unterschiedlicher Projekte diskutiert, darunter die May Day Leuchte von Konstantin Grcic für Flos, die ersten Emojis von Shigetaka Kurita, der Honey-Pop Chair von Tokujin Yoshioka, der Harumaki Chair von Fernando und Humberto Campana oder Frakta, die berühmte blaue Tasche von Marianne und Knut Hagberg für IKEA.
Auf IKEA folgen weitere Demokratisierungen des Designs in den Jahren 2006-2010: das iPhone und Instagram stehen stellvertretend für Smartphones und Social Media. Zwei der wohl größten und grundlegendsten Entwicklungen seit 1989, und zwei, die Design und Gesellschaft direkt und indirekt geprägt haben.
Hinzu kommen bis zum Jahr 2019 weitere Einflüsse, die das Design und seine Ausdrucksformen verändern. Themen wie "Maker Culture", "Peer Production" und "Social Justice", aber auch die Umwelt. Ein Thema, das, wie wir bei "1989 - Culture and Politics" bemerkt haben, schon 1989 präsent war, in der Folgezeit aber weitgehend ignoriert wurde, und das heute in Design und Gesellschaft besonders relevant ist.
Soziale und kulturelle Entwicklungen sowie Umweltbewusstsein werden durch Projekte wie den Sea Chair von Studio Swine, das Projekt Teeter Totter Wall von Studio Rael San Fratello, den Jamil Chair des in Bethlehem ansässigen Labels Local Industries oder den Union Chair des Burg Giebichenstein-Absolventen Hauke Odendahl erforscht. Bei letzterem handelt es sich um ein für uns neues Projekt, das auf 28 Holzlatten basiert - je eine für jeden der 28 EU-Mitgliedsstaaten. Zusammengehalten werden die Holzplatten durch Schmetterlingsschrauben, sodass der Benutzer die genaue Form des Stuhls frei variieren kann. Das spiegelt die Flexibilität der EU wunderbar wider, betont aber auch, dass diese Flexibilität niemals auf Kosten der Stabilität gehen darf.
So zufriedenstellend und angenehm der Union Chair ist und war, kam uns allerdings der Gedanke, dass sich die EU bis 2019 zu etwas entwickelt haben sollte, das eher der stabilen, geschmolzenen Masse des Stuhls Living System von Jerszy Seymours entspricht, der direkt neben dem Union Chair steht. Dankbar sind wir, dass die EU nicht durch die starren unnachgiebigen Netzwerke und Knoten von Marcel Wanders' Knotted Chair versinnbildlicht wird, den der Ausstellungsbesucher ein paar Regalböden höher findet.
Die Ausstellung nimmt den Besucher mit auf eine lebhafte, aber nicht überstürzte Tour durch die letzten drei Jahrzehnte. "After the Wall" bietet so eine zusammenhängende, leicht lesbare, wenn auch notgedrungen verkürzte Erforschung der Entwicklungen des Designs seit 1989. Abgesehen von der Möglichkeit mit den Objekten hautnah in Berührung zu kommen, ergeben sich in der Ausstellung auch einige sehr schöne, zum Nachdenken anregende Gegenüberstellungen: Im Abschnitt zu den Jahren 1995-2000 werden zum Beispiel Massenkonsum und Demokratisierung gleichermaßen präsentiert. Man könnte auf die Idee kommen, dass seit 1989 beides dasselbe bedeutet. Aber ist das wirklich so? Oder ist das nur ein kommerzielles Verständnis von Demokratisierung und keine Auffassung von Design? Ist ein Teil der Verheißungen der Postmoderne im Verlauf der Verfeinerungen und Entwicklungen der frühen 1990er Jahre verloren gegangen?
In ähnlicher Weise macht die Darstellung von Generation Smartphone und Open Source Design in den Jahren 2006-2010 wunderbar deutlich, dass wir derzeit nicht dort sind, wo wir sein sollten und dass die Verbindung der globalen Freiheit des Internets mit altruistischer, sozialer Zusammenarbeit die bereits erwähnte Demokratisierung von Design und Gesellschaft vorantreiben sollte. Stattdessen aber konzentrieren wir uns auf unsere Smartphones und nicht auf unser soziales Gefüge. Und seht, wohin uns das gebracht hat! Das sind Gedanken, die uns in unserer Auffassung bestätigen, dass uns die Geschichte für die völlig missglückte Aufzucht des Zöglings "World Wide Web" bestrafen wird.
Abgesehen von der Ausstellung selbst ist eines der wirklichen Highlights von "After the Wall", dass man die Möglichkeit hat die Präsentation zu verlassen und die Positionen und Objekte der Ausstellung in einem größeren Zusammenhang zu betrachten. Anders ausgedrückt: In einer Designausstellung hat man normalerweise nur die jeweiligen Objekte der Ausstellung vor sich, im Vitra Design Museum Schaudepot ist man stattdessen umgeben von über 100 Jahren (Möbel)-Designgeschichte und kann so die Positionen und Objekte auch außerhalb des Kontextes der Präsentation erkunden. Und dabei nähert man sich einem Verständnis von Design als eines kontinuierlichen Ausdrucks, der sich ständig aktualisiert und weiterentwickelt. Jasper Morrisons Plywood Chair zum Beispiel mag ein minimales Objekt sein, ist aber nicht weniger "minimal" als zum Beispiel Michael Thonets Bugholzstühle aus dem 19. Jahrhundert. Inwiefern unterscheidet sich der Massenkonsum der frühen 1990er Jahre von dem der 1950er Jahre, wie er durch die Fiberglas Stühle von Charles und Ray Eames geprägt und affirmiert wurde? Ist Upcycling nicht nur eine weitere, rationalisierte Entwicklung von Bricolage und Readymade? Zwei Strategien, die sowohl im Schaudepot als auch in ihrer ursprünglichen Form der 1920er Jahre in der Ausstellung "Objects of Desire. Surrealism and Design 1924 – Today?" im Hauptgebäude des Vitra Design Museums zu erleben waren. Und während man heute von einer Zeit nach Plastik träumt, muss man sich daran erinnern, dass die Verwendung von Plastik einst als revolutionärer Ersatz für Holz gefeiert wurde. So meinte Anna Castelli Ferrieri, die Designerin der berühmten Componibili Regaleinheiten von Kartell, einst: "Plastik ist das einzige ökologische Material, das heute existiert. Man sollte das Holz in den Wäldern lassen. Wir sollten nicht mit Ressourcen arbeiten, die erschöpft werden können". Ein Glaube an die Kraft und die Rechtschaffenheit von Kunststoffen, für den auch ihr Zeitgenosse Gaetano Pesce mit seiner Installation für die Ausstellung "Italy: The New Domestic Landscape" des MoMA New York 1972 eintritt.
Die Betrachtung von Projekten wie dem Well Proven Chair von Marjan van Aubel & James Shaw, dem Recycled Carbon Chair von Marleen Kaptein, dem Algae Lab-Projekt von Studio Klarenbeek & Dros oder dem Sea Chair von Studio Swine in unmittelbarer Nähe zu einer Vielzahl von Arbeiten aus unterschiedlichsten Kunststoffen lässt einen darüber nachdenken, wie sich die Diskussion um Kunststoffe seit den 1960er Jahren verändert hat. Es kommt aber auch die Frage auf, inwieweit unser Umgang mit Kunststoff und nicht der Kunststoff selbst das Problem ist. Bietet Kunststoff in bestimmten Situationen nicht unschlagbare Vorteile? Gibt es Wege, die Eigenschaften und Möglichkeiten von Kunststoffen besser auszunutzen, als wir das bisher tun? War Anna Castelli Ferrieris oder Gaetano Pesces unbändige Begeisterung für Kunststoffe nicht völlig gerechtfertigt, nur dass eben die anschließende Entwicklung aus dem Ruder gelaufen ist? Könnten aktuelle Entwicklungen und der Einsatz neuer Materialien und neuer Produktionsverfahren nicht ebenso aus dem Ruder laufen?
Die Ausstellung führt uns so zu weiteren Überlegungen und Gedanken, die durch die über 100 Jahre (Möbel-)Designgeschichte, die den Besucher umgibt, gestützt und erweitert werden. Was bei der Betrachtung von "After the Wall" sehr deutlich wird, ist, dass das Neue im Kontext von Design immer nur eine Weiterentwicklung dessen ist, was es vorher gab, dass das Leben, das wir heute haben, nur eine Weiterentwicklung des Lebens ist, das wir einst hatten.
Jeder Mensch wird älter und es liegt nicht in seiner Hand. Wer es aber schafft auch klüger zu werden, der hat es sich tatsächlich selbst zu verdanken. In diesem Sinne: Feiert nicht nur Geburtstage, sondern nutzt sie zum Nachdenken. "After the Wall. Design seit 1989" läuft bis Sonntag, den 23. Februar im Vitra Design Museum Schaudepot, Charles-Eames-Str. 2, 79576 Weil am Rhein.
1Florian Hufnagl (Ed.), Plastics + design, Die Neue Sammlung, Staatliches Museum für Angewandte Kunst, München, Arnoldsche Verlag, Stuttgart, 1997
2Emilio Ambasz (Ed.), Italy: the new domestic landscape achievements and problems of Italian design, Museum of Modern Art, New York, 1972
Alle Details sind unter www.design-museum.de/after-the-wall-design-since-1989 zu finden.