Am 14. Mai 2019 entschied der Europäische Gerichtshof, dass alle Arbeitgeber verpflichtet sind, "ein objektives, zuverlässiges und zugängliches System einzurichten, das es ermöglicht, die Dauer der täglich von jedem Arbeitnehmer geleisteten Arbeitszeit zu messen."1
Am 15. Juli 1855 erhielt Johannes Bürk für ein solches System ein Patent.
Ein System, das, wie die Ausstellung "Zeit Freiheit und Kontrolle – Johannes Bürk und die Folgen" des Uhrenindustriemuseums Villingen-Schwenningen erklärt, vielen Entwicklungen im Bereich der Erfassung, Überwachung und Verwaltung der Zeit den Weg ebnete. Diese Entwicklungen verliefen im Zuge der Industrialisierung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts und waren für ihren Erfolg unerlässlich. Sie prägen unsere postindustrielle Gesellschaft nach wie vor.
Es gab mal eine Zeit, da hatte die Zeit keine große Relevanz. Die Sonne ging auf, die Sonne ging unter. In der Zwischenzeit ging man seinen Tätigkeiten nach. Die Zeit als "solche" existierte nicht. Relevant war die Zeit für die Regelung und Definition der Tagesabläufe in religiösen Orden, vor allem im Kontext des christlichen Glaubens; zunächst in Klöstern und später, im Zuge der Verbreitung des Christentums, in der Gesellschaft. Kirchturmuhren waren kein philanthropischer, öffentlicher Service, sondern dienten einzig dazu, eine korrekte und geordnete Anwesenheit zu gewährleisten.
Eine Nutzung der Zeit im Sinne der Regulierung und Definition des Alltags der Massen spiegelte sich auch in der Entwicklung der Industrialisierung - der neuen Religion - wider. Diese erforderte eine genaue und für alle geregelte Zeitmessung; einerseits für den Transport von Fertigprodukten und Rohstoffen und andererseits für den Betrieb der Fabriken - auch hier musste eine korrekte und geordnete Anwesenheit der Arbeiterschaft gewährleistet sein. Solche Anforderungen führten nicht nur zu einer neuen Art und Weise, wie Zeit erfasst und überwacht wurde, sondern auch zu Veränderungen in unserem Verhältnis zur Zeit, zur Rolle der Zeit in unserem Alltag. Bei diesen Entwicklungen, und das macht die Ausstellung "Zeit, Freiheit und Kontrolle - Johannes Bürk und die Folgen" sehr anschaulich deutlich, spielte die "Schwarzwald-Uhrenindustrie" eine zentrale Rolle.
Im Schwarzwald werden seit etwa 1700 Uhrwerke entwickelt und produziert. Die Uhrenindustrie hat so wesentlich zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der Region beigetragen. Das damalige Dorf Schwenningen zum Beispiel verdoppelte sich zwischen etwa 1780 und 1880 von 5.000 auf 10.000 Einwohner, ein Jahrhundert, in dem immer mehr Arbeiter aus ganz Europa tief in den Schwarzwald zogen.
Zu den führenden Protagonisten der sich entwickelnden Schwarzwälder Uhrenindustrie gehörte Johannes Bürk. 1819 als Sohn eines Schuhmachers in Schwenningen geboren, etablierte sich Johannes Bürk zunächst als Autor und Verleger, bevor er 1849 zum Schwenninger Schultheiss/Bürgermeister ernannt wurde. Zu den unzähligen problematischen Dingen, mit denen sich Johannes Bürk als Schultheiss beschäftigte, gehörte die Überwachung der Nachtwächter der Stadt. Der Nachtwächter war Mitte des 19. Jahrhunderts, wie "Zeit, Freiheit und Kontrolle" erklärt, keine besonders angesehene Position und so wurden die Nachtwächter ihrer großen Verantwortung nicht immer gerecht. Die Überwachung der Nachtwächter wurde daher unerlässlich. Aber wie ließ sich diese durchführen, wo Nachtwächter per Definition nachts arbeiten und mobil sind?
Die Anhebung des Status und der Wertschätzung des Nachtwächters wäre Mitte des 19. Jahrhunderts bestimmt eine mögliche Lösung gewesen. Unter der (leninistischen) Prämisse allerdings, dass Vertrauen gut, Kontrolle aber besser ist, suchte Johannes Bürk eine technische Lösung für das Problem. 1855 präsentierte Bürk mit seiner sogenannten Nachtwächter-Kontrolluhr eine so intuitive wie einfache Lösung: Ein Papierstreifen schaltet ein Uhrwerk in einem taschenuhrgroßen Objekt ein, dieser Streifen wird mit Hilfe einer Reihe von Schlüsseln, die auf ihrem Weg verteilt sind, von den Nachtwächtern markiert. Dieses System ermöglichte es also, die Anwesenheit eines Nachtwächters an einem bestimmten Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt eindeutig aufzuzeichnen und so die Aktivität des Nachtwächters zu überwachen. Wie im Verlauf von "Zeit, Freiheit und Kontrolle" diskutiert wird, ging es dabei bald nicht mehr nur um Nachtwächter, sondern um ein System, das eine breitere Überwachung der Gesellschaft ermöglichte.
Die Ausstellung beginnt mit einer kurzen ortsbezogenen Erforschung der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Situation im Schwenningen des 19. Jahrhunderts und einer ganz kurzen Einführung zur Person Johannes Bürk. Danach geht "Zeit, Freiheit und Kontrolle" schnell zu den Hauptdiskussionspunkten über: Dazu gehören die zentrale Rolle der Zeiterfassung und -überwachung in der Entwicklung der Industriegesellschaften und die Spannung, die zwischen "Freizeit" und der Zeiterfassung als institutioneller Kontrolle besteht.
Zu diesem Zweck folgt "Zeit, Freiheit und Kontrolle" einem chronologischen Weg von 1855 bis heute. Dieser umfasst den Übergang von der Nutzung der Zeit zur Überwachung von Nachtwächtern bis hin zu umfassenderer Disziplinierung, Standardisierung und Flexibilisierung der Gesellschaft, was durch Objekte anschaulich gemacht wird. Der Wecker ist in diesem Zusammenhang das beste Beispiel für eine der Veränderungen, die die Industrialisierung in unserem Alltag mit sich brachte. Er ist eine der greifbarsten Kontrollinstanzen der individuellen Freiheiten durch die Industriegesellschaft und auch ein zentrales Produkt der Schwarzwälder Uhrenindustrie. Eine Industrie, die nicht nur von der Industrialisierung profitierte, sondern auch zu ihrem Erfolg beitrug.
Die Popularität der Überwachung von Zeit zum Zwecke der Standardisierung in den frühen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wird durch Videos von Zeit- und Bewegungsstudien von Frank und Lillian Gilbreth und eine Küchenuhr aus der Mitte der 1930er Jahre unterstrichen: Ein scheinbar harmloses, ästhetisch ansprechendes Objekt, das aber, wie die Kuratoren feststellen, deutlich macht, dass auch in der Küche "jede Minute wichtig war". Eine Minute eingesparte Hausarbeit ist eine Minute mehr Freizeit, aber eben eine Minute, die durch strenge Vorschriften eingespart wird.
Gedanken, die uns nicht nur ins Jahr 1921 zurückversetzen, zu Margarete Schütte und den Modernisten der Zwischenkriegszeit, die unnachgiebig ihrer Faszination für Normierung nachgingen, sondern uns auch an die Ausstellung "Politics of Design. Design of Politics" in der Neuen Sammlung München und Friedrich von Borries Meinung, dass Design manipuliert und diszipliniert, erinnern.
Neben diesen allgemeinen Diskussionen präsentiert "Zeit, Freiheit und Kontrolle" Objekte der lokalen Schwarzwald-Uhrenindustrie analog zu den Entwicklungen der Zeit, vor allem im Kontext von Zeit als einem Werkzeug der sich entwickelnden Industrialisierung. Dazu gehört unter anderem ein sogenannter Radialapparat von ca. 1900, eine frühe Version der Stanzuhr, und insbesondere ein Modell, das von Binghamton, der New Yorker Bundy Manufacturing Company, entwickelt und in Schwenningen von Johannes Bürks Württembergischer Uhrenfabrik, WUF, in Lizenz produziert wurde. Die WUF war also sehr viel mehr als der Hersteller der Nachtwächter-Kontrolluhr, sondern im Laufe des 20. Jahrhunderts einer der international führenden Akteure bei der Entwicklung von Zeiterfassungs- und Managementsystemen. Zu sehen ist zudem eine Arbeitsschauuhr aus den 1950er Jahren, die die Zeit eines Arbeitnehmers für eine bestimmte Tätigkeit erfasst und damit eine Überwachung der Effizienz und eine detailliertere Kostenanalyse, also eine Kosteneffizienzanalyse des einzelnen Arbeitnehmers möglicht macht; oder die Kienzle 6600: Ein unschönes Gerät, das die halbautomatische Berechnung der Gleitzeit ermöglicht.
Die Ausstellung endet mit aktuellen Ansätzen zur Optimierung unseres Zeitmanagements: Dazu gehören eine Diskussion über das iPad als Vertreter neuer Arbeitsweisen und die ZeitSPARmaschine der Freiburger Designerin Tanja Unger. Hinzu kommt eine Sammlung von Apps, darunter der Habitbull Habit Tracker, der Runtastic Fitness Tracker und die Billomat Buchhaltungs-App, die alle mit dem Ziel entwickelt wurden, maximal optimiertes Zeitmanagement zu ermöglichen. Und welche App wird eines Tages Maschinen aus uns allen machen? Im Kontext der Ausstellung stellt sich natürlich die Frage: Was wollen wir eigentlich mit alldem erreichen? Warum wollen wir es erreichen? Und wohin führt uns das?
Fragen, die in unserer heutigen Gesellschaft, in der die Überwachung und Aufzeichnung unserer Zeit zunehmend nicht nur im Zusammenhang mit unserem Arbeitsleben, sondern auch mit unserem Privatleben steht, äußerst zutreffend sind. So schmerzhaft ein Weckerklingeln am frühen Morgen auch sein mag, es gibt Argumente dafür. Aber womit rechtfertigen wir, dass unsere privaten Momente und Bewegungen aufgezeichnet werden? Womit rechtfertigen wir Daten, die wir täglich nach Kalifornien schicken und die unseren Standpunkt ebenso eindeutig erfassen wie Johannes Bürks Nachtwächter-Kontrolluhr?
Johannes Bürk wollte sicherstellen, dass die Schwenninger in ihren Betten sicher sind, und das hat er wohl auch erreicht. Er konnte mit den gesammelten Daten nicht mehr anfangen, als sicherzustellen, dass die Nachtwächter ihre Runden wie vorgeschrieben abliefen. Gesellschaft, Industrie, Technologie haben sich seit 1855 entwickelt und so nützlich unsere moderne Technologie auch sein mag, sie birgt immer ein sehr reales Risiko für unsere Freiheit, das Risiko unaufgeforderter Kontrolle. Können/sollen/müssen wir das akzeptieren? Wiegen die Vorteile der Überwachung aller Bereiche unseres täglichen Lebens tatsächlich die Nachteile auf? Muss jede Optimierung eine weitere nach sich ziehen? Wie wird in 10, 20, 100 Jahren das Gleichgewicht zwischen persönlicher Freiheit und institutioneller Kontrolle aussehen?
Fragen, die in Zeiten von Gleitzeit und Home Office äußerst gerechtfertigt sind. Solche Regelungen ermöglichen zwar einen gewissen Grad an Freiheit bei der Arbeit, bedeuten aber, dass wir praktisch immer am Arbeitsplatz sind. Das Verschmelzen der Grenzen zwischen Arbeitsplatz und Büro führt dazu, dass E-Mails im Bett beantwortet werden, die Vorbereitung fürs Meeting im Zug am Sonntagmittag stattfindet und die Beantwortung von Geschäftsanrufen im Supermarkt erledigt wird. Der Fabrikarbeiter der Industriewirtschaft konnte ein- und wieder aussteigen - für den Fabrikarbeiter der Dienstleistungs- und Digitalwirtschaft gibt es diese klare Trennung nicht mehr.
Diese Problematik war auch Anlass der Klage der spanischen Gewerkschaft, die zum Urteil des Europäischen Gerichtshofs führte, und die sicherstellen sollte, dass die gesamte Zeit im Bett, im Zug, im Supermarkt als Arbeitszeit anerkannt wird. Aber ist das die Lösung? Führt das nicht zu noch mehr Kontrolle, um unsere täglichen Bewegungen immer genauer zu erfassen und die vom EuGH geforderte "Zuverlässigkeit" zu gewährleisten? Gewinnen wir nicht vielleicht mehr persönliche Freiheit, wenn wir einfach Montag bis Freitag, 9 bis 17 Uhr ins Büro gehen? Wer profitiert eigentlich von Gleitzeit und Home Office?
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Arbeitgeber 1855 sehr daran interessiert waren, ihre Arbeitnehmer zu überwachen, während sie es 2019 weniger sind. Das heißt, während die Arbeitgeber 1855 davon ausgingen, dass die Arbeitnehmer faulenzen, gewinnt man heute, vor allem im Hinblick auf die kritischen Reaktionen auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs, den Eindruck, dass viele Arbeitgeber vermuten, dass viele unbezahlte Überstunden geleistet werden, die sie aber nicht bezahlen wollen.
"Zeit, Freiheit und Kontrolle" ist eine schöne Ausstellung, die keineswegs unter ihren räumlichen Einschränkungen leidet und die Geschichte und Entwicklung der Zeiterfassung und des Zeitmanagements sehr ordentlich und sehr unaufdringlich erklärt. Das führt dazu, dass wir unser Verhältnis zur Zeit in Frage stellen und verstehen, dass in unserer heutigen Welt Zeit eine Ressource und damit Quelle von Macht und Einfluss ist. Dass Zeit nicht immer so verstanden wird, ist in vielerlei Hinsicht eine Folge der in der Ausstellung dokumentierten Entwicklungen, die uns dazu veranlasst haben, die Kontrolle unserer Zeit als normalen, natürlichen Zustand zu akzeptieren und die Einschränkungen, die eine solche Kontrolle unseren Freiheiten auferlegt, nicht in Frage zu stellen.
"Zeit, Freiheit und Kontrolle" ist eine Einladung, unser Verständnis von Zeit, Freiheit und Kontrolle zu überdenken. Wer kontrolliert unsere Zeit? Muss das so sein? Können wir die Dinge beeinflussen? Müssen wir die Zeit überwachen und erfassen? Oder werden wir dabei einfach Diener der Zeit, anstatt die Zeit zu beherrschen? Haben wir zu viel optimiert? Was ist falsch daran, die Sonne auf- und untergehen zu lassen und in der Zwischenzeit zu tun, was getan werden muss?
"Zeit, Freiheit und Kontrolle - Johannes Bürk und die Folgen" läuft bis Sonntag, den 1. März im Uhrenindustriemuseum, Bürkstraße 39, 78054 VS-Schwenningen.
Alle Details sind unter www.uhrenindustriemuseum.de zu finden.
2Grete Lihotzky, Einiges über die Einrichtung österreichischer Häuser unter besonderer Berücksichtigung der Siedlungsbauten, Schlesisches Heim, Jahrg 2, Heft 8, August 1921, 217 - 222
1. http://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=214043&pageIndex=0&doclang=EN&mode=req&dir=&occ=first&part=1&cid=7732645 Accessed 05.07.2019