"Form sollte nicht begrenzt sein, sondern amorph, sodass die Erfahrung in ihr locker, mäandernd und vielfältig ist" - Balkrishna Doshi1 . Mit der Ausstellung "Architektur für den Menschen" untersucht das Vitra Design Museum, wie der indische Architekt Balkrishna Doshi das Amorphe, das Soziale und das Humane in seiner Architektur realisiert.
Da der indische Architekt Balkrishna Doshi ausschließlich in Indien tätig war, ist sein Name eher unbekannt in Europa. Und das, obwohl er 2018 Pritzker-Preisträger war und damit eine der wichtigsten internationalen Architekturauszeichnungen erhielt. Hinzu kommt, dass Balkrishna Doshis Karriere in Europa begann und von Europa beeinflusst wurde und in vielerlei Hinsicht für Europa und die Menschen in Europa genauso relevant ist wie für Indien und Indiens Bevölkerung.
Balkrishna Vithaldas Doshi wurde am 26. August 1927 in Pune geboren, studierte zunächst Malerei am dortigen Institute of Modern Art, bevor sein Tutor ihm riet Architektur in Betracht zu ziehen. Ein Ratschlag, den Doshi glücklicherweise befolgte, was dazu führte, dass er sich 1947 am Sir Jamshedjee Jeejeebhoy College of Architecture in Mumbai einschrieb. Unzufrieden mit den Methoden und Inhalten des Architekturstudiums in Mumbai, zog Doshi 1951 nach London, mit dem Ziel dem Royal Institute of British Architects beizutreten. Dort kreuzte das Schicksal seinen Weg. Und zwar nicht in London, sondern im ländlichen Hoddesdon, Hertfordshire, wo im Juli 1951 der 8. Congrès International d'Architecture Moderne, CIAM, stattfand, und wo Doshi erfuhr, dass Le Corbusier mit dem Bau der neuen Stadt Chandigarh in Nordindien beauftragt wurde.
"Kann ich mitmachen?" fragte Doshi.
"Du würdest für acht Monate nicht bezahlt werden. Aber wenn du kommen willst, komm", lautete die Antwort2. Eine Antwort, die deutlich macht, dass sich in der Welt der Architektur seit den 1950er Jahren offenbar wenig verändert hat. Doshi nahm das Angebot jedenfalls an.
Nach drei Jahren in Paris, in denen er nicht nur Werke für Chandigarh und Ahmedabad entwickelte, sondern auch Le Corbusiers schwebenden Betonblock, den Schweizer Pavillon an der Cité Internationale Universitaire und ähnlich schwerelose Betonarbeiten von Oscar Niemeyer kennenlernte, kehrte Doshi 1954 nach Indien zurück, wo er die Bauaufsicht für Le Corbusiers Projekte in Chandigarh und Ahmedabad übernahm und ein eigenes Architekturbüro namens Vastu-Shilpa gründete. Von dort aus hat Balkrishna Doshi in über 60 Jahren über 100 Projekte realisiert. Von kleinen Privathäusern über Wohn- und Geschäftshäuser bis hin zu umfangreichen Stadtplanungen.
Im Jahr 1961 war Doshi sowohl an der Planung und Realisierung von Louis I. Kahns Indian Institute of Management in Ahmedabad als auch an den ersten Planungen des National Institute of Design beteiligt. Die Gründung des Instituts basierte auf Charles und Ray Eames' "India Report". 1962 gründete er dann die School of Architecture, Centre for Planning and Technology, kurz CEPT, und begann damit auch seine Karriere als Akademiker, Lehrer und Autor. Eine Karriere, die ihn als Gastprofessor an zahlreiche internationale Institute brachte, ihn auf zahlreichen internationalen Konferenzen Vorträge halten ließ und ihm zahlreiche internationale Auszeichnungen einbrachte, darunter im März 2018 besagten Pritzker-Preis.
Der Pritzker-Preis ist natürlich nicht der Grund für die Ausstellung "Architektur für den Menschen" - jedenfalls wird das im Vitra Design Museum (sehr) gerne hervorgehoben. Ältere Leserinnen und Leser werden sich erinnern: Auch beim Zeitpunkt der Präsentation von "Alvar Aalto - Second Nature" im Vitra Design Museum, kurz nach Vitras Übernahme von Artek, handelte es sich um einen glücklichen Zufall und nicht um eine Reaktion. Die Planung der Ausstellung hatte lange vor der Artek-Übernahme begonnen und genauso wurde "Architektur für den Menschen" lange vor der Verleihung des Pritzker-Preises geplant. Einmal mehr haben also die Ereignisse die Kuratoren überholt. Sollte das Vitra Design Museum jedoch zum dritten Mal eine solch kluge Voraussicht haben, werden wir dann doch offiziell misstrauisch.
Nicht, dass das Museum erpicht darauf wäre eine Verbindung mit dem Pritzker-Preis von sich zu weisen, weil man denken könnte, die Themen würden aufgrund kurzlebiger kommerzieller Strategien ausgewählt. Vielmehr ist das Museum erpicht darauf herauszustellen, aus welchen Gründen man sich für eine Solo-Ausstellung von Balkrishna Doshi entschieden hat. Diese Gründe werden durch die Verleihung des Pritzker-Preises bestätigt und in der Ausstellung "Architektur für den Menschen" erläutert und diskutiert.
Basierend auf der Ausstellung "Celebrating Habitat: The Real, the Virtual and the Imaginary" der Indian National Gallery of Modern Art von 2014, ist "Architektur für den Menschen" eine thematische Präsentation von Doshis Werk, die in vier Kapitel unterteilt ist. Vier Kapitel, die zwar alle verschiedene Aspekte von Balkrishna Doshis Architekturverständnis und seinem Arbeitsansatz widerspiegeln, die aber alle miteinander verbunden und voneinander abhängig sind. Diese Wechselbeziehungen sind gewissermaßen repräsentativ für Balkrishna Doshis ganzheitliches Verständnis von Architektur. Ein Verständnis, das im ersten Kapitel der Ausstellung als Reflexion über "die Pflicht des Architekten gegenüber der Gesellschaft" beschrieben wird.
Thematischer Schwerpunkt des ersten Abschnitts der Ausstellung ist das "Centre for Environmental Planning and Technology, CEPT" in Ahmedabad. Eine Institution, in der Doshi nicht nur zu Bildungsinhalten und -methoden beigetragen hat, sondern für die er auch zahlreiche Gebäude entwickelt hat, darunter unter anderem das "Kanoria Centre for Arts", die "School of Design" oder die Kunstgalerie "Amdavad Ni Gufa". Dabei handelte es sich um ein Projekt, das in Zusammenarbeit mit dem Künstler Maqbool Fida Husain entwickelt wurde, und das in Form eines Modells die erste Ausstellungshalle dominiert. Darüber hinaus ein Projekt, das in seiner Entstehungsgeschichte, der Kombination von computergestütztem Design und lokalen Bautechniken, seinem Bezug zu lokalen Traditionen und seinen innovativen Lösungen im Umgang mit dem vorherrschenden Klima in vielerlei Hinsicht den Ton für den Rest der Ausstellung angibt.
Von groß angelegter Architektur geht "Architektur für den Menschen" über zum Wohnungsbau und zu Doshis zahlreichen Wohnprojekten, darunter ein Besuch in seinem eigenen Haus, dem Kamala-Haus in Ahmedabad. Dabei handelt es sich nicht um eine voyeuristische Leichtfertigkeit, sondern vielmehr um eine Notwendigkeit für die Erzählung der Ausstellung: Architekten bringen ihre Überzeugungen in der Privatsphäre ihrer eigenen Häuser häufig besonders deutlich auf den Punkt und sind sich so gewissermaßen bei ihren eigenen Häusern manchmal näher als bei öffentlichen Aufträgen. Man könnte sagen: Von "Architektur für den Einzelnen" zu "Architektur für die Menschen".
Das wird durch Projekte wie die "Aranya Low Cost Housing Community" in Indore unterstrichen. Im Rahmen solcher Projekte wird ein vorgefertigtes, modulares Bausystem konzipiert, das es den Bewohnern ermöglicht, ihr eigenes Zuhause nach ihren eigenen Bedürfnissen zu gestalten, bzw., um Margarete Schütte-Lihotzky zu paraphrasieren: entsprechend der Organisation ihrer eigenen Lebensweise zu gestalten. Den Bewohnern und der Gemeinschaft soll so ein Gefühl von Eigenverantwortung, Identität und Ermächtigung statt das Gefühl einfach irgendwo zu leben vermittelt werden. Dieses Gefühl der Ermächtigung zieht sich durch die Ausstellung "Architektur für den Menschen" und wurde, wie uns die Kuratoren mitteilen, inspiriert durch die Lehren Mahatma Gandhis, einer nicht unwichtigen Figur im späten postkolonialen Indien, in dem Doshi aufgewachsen ist.
Die Reflexionen über Doshis eigene alltägliche Realität werden im dritten Kapitel fortgesetzt. Der Ausstellungsraum wird hier von der Präsentation seines eigenen Büros Sangath bestimmt, einem Werk, das durch Doshis charakteristische Verwendung konkreter und brutalistischer Tendenzen dazu neigen könnte, alles Amorphe auszuschließen. Aber gerade die brutalistischen Einflüsse, die damit verbundenen Überlegungen zur Funktion des Gebäudes über die bloße physische Struktur hinaus, die Einbeziehung der lokalen Umweltbedingungen, die Wahl von Materialien und Art des Bauprozesses, sprechen viel vom Amorphen. Diese Überlegungen werden anhand von Projekten, wie dem "Mahatma Gandhi Labour Institute", der "Shreyas Foundation Comprehensive School" oder dem "Indian Institute of Management" in Bangalore weiter diskutiert.
Im letzten Kapitel werden die einzelnen Aspekte der vorangegangenen im Kontext des Themas Stadtplanung zusammengeführt. Wie können wir bessere, reaktionsschnellere Städte entwickeln, Städte, die sich positiv auf Einzelpersonen, Gemeinschaften und die Umwelt auswirken? Fragen, die Doshi mit Werken beantwortete, wie unter anderem seinem Masterplan für "Vidhyadhar Nagar" von 1984, einer 350 Hektar großen energiebewussten Siedlung für 400.000 Einwohner am Rande von Jaipur.
Es handelt sich zudem um Fragen, die die zeitgenössische globale Relevanz vieler der Themen und Überlegungen, die in Doshis lokaler, ortsspezifischer Arbeit stecken, unterstreichen.
Oder anders ausgedrückt: Wenn man sich "Architektur für den Menschen" anschaut, kommt man zu der sehr offensichtlichen Erkenntnis, dass so wie der Brexit nicht allein von den englischen Konservativen gelöst werden kann, vielleicht auch der bessere Ansatz für die aktuellen Herausforderungen zeitgenössischer europäischer Architektur und Stadtplanung jenseits des eigenen Blickfeldes zu finden ist. Europa kann von anderen Kontinenten, anderen Ländern lernen, auch von denen, die wir vielleicht noch mit dem Auge des Kolonialisten sehen.
Was nicht heißt, dass Balkrishna Doshi alle Antworten hat. Balkrishna Doshis Arbeit liefert allerdings einen differenzierten Blick darauf, wie zeitgenössische, globale, architektonische und städtebauliche Probleme angegangen werden können, und findet Antworten auf die Fragen, wie Architektur human sein kann und wie Architektur Gemeinschaften nicht nur beherbergen sondern auch unterstützen und entwickeln kann.
Wie immer bei Architekturausstellungen muss sich auch "Architektur für den Menschen" mit dem uralten Problem auseinandersetzen, das die Architektur in einem Maßstab präsentiert werden muss, der sich den Bedingungen des Museums anpasst. Dem Vitra Design Museum gelingt das einerseits durch die relative Einfachheit der Präsentation: Es ist viel zu sehen, es gibt viele Modelle, Skizzen und Fotos, aber auch viel Raum, sowohl physisch in den Ausstellungsräumen als auch inhaltlich. Die Ausstellung versucht nicht alle Grundlagen abzudecken. Es gibt ausreichend Informationen und dann wird zum nächsten Punkt übergegangen. Dadurch bleibt die Präsentation zugänglich, ansprechend und kohärent.
Das Raumgefühl wird durch ein kräftiges Farbschema unterstützt, das zudem ein Gefühl der Bewegung vermittelt. Dieses Farbschema wird wiederum durch die zahlreichen lebendigen Collagen, die von Doshi für seine Projekte geschaffen wurden, durchbrochen. Collagen, die auf traditionellen indischen Kunsttechniken basieren und eine ganz neue Welt des Dramas und der Poesie für das schlichte Genre der Architekturzeichnung eröffnen. Sie sind eine der wahren Freuden von "Architektur für den Menschen" und ermöglichen Dank ihrer Anziehungskraft eine Form von Ablenkung von der Erzählung. Man vergisst kurz, wo man sich befindet/war, verliert sich in Farben, Formen und Szenografien und kann sich so neu bewegen.
Mit ihren Modellen, Skizzen und Fotografien können Architekturausstellungen entmutigend sein. Eigentlich machen sie uns vorher immer Angst. Wichtig ist, sich daran zu erinnern, dass keiner verlangt eine Kritik über die Werke zu schreiben, bzw. auch nicht erwartet wird, dass man eine Ausstellung mit perfektem Verständnis für den Architekten verlässt. Was schon gar nicht möglich wäre, weil man dazu die Arbeiten persönlich erleben müsste. Allerdings sollte man aus einer Architekturausstellung mit neuem Hunger und vor allem mit einem solideren und differenzierten Verständnis der Rolle und Funktion von Architektur kommen.
"Balkrishna Doshi. Architektur für den Menschen" liefert genau das.
"Ich wusste nicht, dass ich für die Menschen arbeite", verkündete Balkrishna Dohi als Reaktion auf den Ausstellungstitel. Und in vielerlei Hinsicht tut er das auch nicht.
Seine Interessen, und das erklärt die Ausstellung sehr gut, waren sehr viel fundamentaler. Es ging vielmehr um die Beziehung zwischen einem Gebäude und dem Nutzer, um die unzähligen Kontexte, in denen ein Gebäude existiert, um Zeit, Raum, Identität, Empowerment, Gleichheit, Verantwortung. Darum, sensibel mit lokalen Traditionen umzugehen, aber ohne Angst zu haben, sie zu modernisieren, wo es notwendig ist. Bei der Ausstellungseröffnung verwiesen die Kuratoren regelmäßig auf die Nachhaltigkeit der Arbeiten von Doshi, nicht nur in ökologischer, sondern auch in kultureller und sozialer Hinsicht. Indem wir die Notwendigkeit dafür nicht nur verstehen, sondern auch verstehen, wie sich eine solche Architektur realisieren lässt, wie eine amorphe Architektur entstehen kann, entsteht eine Architektur für das Volk.
Oder besser gesagt: Wenn wir klug genug sind, die Relevanz von Balkrishna Doshis Werk zu verstehen, könnte eine Architektur für die Völker entstehen.
"Balkrishna Doshi. Architektur für den Menschen" läuft im Vitra Design Museum, Charles-Eames-Str. 2, 79576 Weil am Rhein bis Sonntag, den 8. September.
1Balkrishna Doshi, Everything is interrelated in David Pearson, New Organic Architecture: The Breaking Wave, University of California Press, 2001
2Balkrishna Doshi. Architecture for the People, Katalog, Vitra Design Museum, Wüstenrot Stiftung. 2019
Alle Details, darunter alle Informationen zum Rahmenprogramm, sind unter www.design-museum.de zu finden.