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Am 10. Dezember 1869 verzichtete die Gebrüder Thonet freiwillig auf ihr Privileg der "Anfertigung von Sesseln und Tischfüßen aus gebogenem Holz, dessen Biegung durch Einwirkung von Wasserdämpfen oder siedenden Flüssigkeiten geschieht". Damit beendeten sie nicht nur ein dreizehnjähriges Monopol - im Verlauf dieser Zeit war Thonet zu einer fest etablierten Weltmarke geworden, sondern auch eine Erfolgsgeschichte, die die Bedeutung des Patentschutzes in der Möbelindustrie unterstreicht.
Der Tischler Michael Thonet begann Anfang der 1830er Jahre in seiner Heimatstadt Boppard am Rhein mit dem Biegen von Holzfurnieren zu experimentieren. Und das in einer Zeit, in der das Furnier in Europa einerseits immer beliebter und zudem durch die Einführung mechanisierter Produktionsmethoden leichter und kostengünstiger verfügbar wurde. Seine Experimente können als ein Versuch verstanden werden, Verfahren zu entwickeln, die es ermöglichen, das Potenzial dieses Materials sinnvoll auszudrücken, und als eine Möglichkeit für die Tischlerei, sich in neue Richtungen zu bewegen, vor allem hinsichtlich der Möbelproduktion.
Nach einem Jahrzehnt des Experimentierens und Produzierens von Möbeln aus gebogenen Holzfurnieren beantragte Michael Thonet 1840 in Preußen ein Patent, allerdings ohne Erfolg. Laut Mathias Schwartz-Clauss lehnt die zuständige Behörde den Antrag "mangels Neuheit" ab1: Das Biegen von Holzfurnier war selbst nicht neu, ob die preußischen Behörden am Verfahren von Thonet einfach nichts Neues finden konnten, und ob das zutreffend war, können wir nicht mit Sicherheit sagen. Sicher ist, dass andere Behörden anderer Meinung waren und Thonet Patente in Frankreich, Großbritannien und Belgien erhielt, Patente, die Thonet wiederum selbst in Boppard verkaufen wollte2. Allerdings versäumte Thonet es entweder, Käufer zu finden, die bereit waren, einen akzeptablen Preis zu zahlen, oder die potenziellen Käufer wollten Michael Thonet in das Tagesgeschäft einbeziehen, was er nicht tat.3
All das wäre villeicht nicht so schlimm gewesen, hätte Michael Thonet sich nicht viel Geld geliehen, um zuerst seine Forschung und dann die Patente zu finanzieren. Ohne Geld in Sichtweite wurden seine Gläubiger schnell nervös und begannen, das Eigentum der Firma und zuletzt das der Familie durch Rückzahlung zu pfänden. Hier greift jedoch das Schicksal ein: Auf einer Kunstgewerbemesse in Koblenz sah der damalige österreichische Bundeskanzler Fürst Clemens von Metternich das Werk von Thonet und lud Michael Thonet in seine Residenz nach Johannisberg im Rheingau ein, um seinen Prozess näher zu erläutern. Was Metternich sah und hörte überzeugte ihn, und so gab er Thonet den Rat, wenn er erfolgreich sein wolle, den Vorstand nach Wien zu verlegen, wo er versprach ihn bei Gericht zu empfehlen. Genau dies tat er letztendlich. Und so wäre "die Erfindung Thonets nur von lokaler Bedeutung geblieben, hätte sich Metternich nicht für die Sache interessiert, mit richtigem Blick die praktische Folgen erkannt und sich für die Durchführung (mit Erfolg) eingesetzt."4 Dafür, dass er eine Möglichkeit gefunden hatte "jede, auch selbst die sprödeste Gattung Holz auf chemischem, mechanischem Wege in beliebige Formen und Schweifungen zu biegen", wurde Michael Thonet am 16.Juli 1842 das österreichische Patent verliehen.
Zwar sind Michael Thonets frühe Jahre in Wien im Kontext seiner Biographie interessant und wichtig sind, zu Gunsten von Kürze und Konzentration bezüglich unseres Themas werden wir allerdings direkt auf seine Kooperationen mit Clemens List, seine Arbeit am Palais Lichtenstein und seinen ersten kommerziellen Erfolg 1850 mit seinem Stuhl Nr. 4 und auf das Jahr 1852 übergehen.
Thonets Patent von 1842 war 1847 abgelaufen, so dass er seitdem ohne jeglichen Schutz seiner Verfahren und Entwürfe, einschließlich seines immer beliebter werdenden Stuhls Nr. 4, weiter produzieren musste. Eine Situation, die 1852 mit einem zweiten Patent gelöst wurde, das umfasste "Holz durch zuschneiden und wieder verleimen in jede gewünschte Richtung biegsam zu machen". Laut Schwartz-Clauss war das Patent 1852 "hauptsächlich unternehmenspolitisch interessant"5. Wir würden ja argumentieren, dass das auf jedes Patent zutrifft, Thonets Patent von 1952 ist allerdings ein besonders gutes Beispiel, weil es dem Unternehmen eine Monopolstellung ermöglichte, die im Rückblick zentral für die spätere Entwicklung des Unternehmens war.
1851 erreichte Thonet auf der Londoner Weltausstellung ein internationales Publikum, sodass 1852 die Geschäftstätigkeit für die Eröffnung eines ersten Thonet-Showrooms in Wien ausreichte. Ein Jahr später überschrieb Michael Thonet das Unternehmen seinen Söhnen. Er gründete so Gebrüder Thonet und verteilte die Arbeitsbelastung und das Know-how innerhalb des Unternehmens, eine Entscheidung, die sich in späteren Jahren als unschätzbar wichtig erweisen sollte. 1855 präsentierte sich das Unternehmen auf der Pariser Exposition Universelle, wo nach Schwartz-Clauss "erstmals Aufträge aus Übersee, vor allem aus Südamerika, eingingen".6 Am 17. Juni 1856 erhielten Michael Thonet und seine Söhne die österreichische Staatsbürgerschaft und am 10. Juli 1856 wurde den Gebrüdern Thonet ein Patent auf "die Anfertigung von Sesseln und Tischfüßen aus gebogenem Holz, dessen Biegung durch Einwirkung von Wasserdämpfen oder siedenden Flüssigkeiten geschieht" gewährt, und damit und zum ersten Mal ein Patent für die Herstellung von Möbeln aus gebogenem Massivholz.
Als Thonet 1856 das Patent erhielt, beschäftigte das Unternehmen rund 70 Mitarbeiter in der Mollardgasse in Wien-Gumpendorf. Die Werkstatt konnte die ständig wachsende Nachfrage kaum befriedigen, so dass das Unternehmen in Koryčany, Mähren, ein Grundstück für den Bau einer neuen Fabrik erwarb. Dieses Grundstück bot ausreichend Platz und Koryčany befand sich in einer Region, die reich an den notwendigen Buchenwäldern war und über ausreichend Arbeiter, sowohl Heimarbeiter für das Weben der Weidenstühle als auch Fabrikarbeiter verfügte.
Seit seinen Anfängen in Boppard hatte sich Thonet, wo immer möglich, auf die Verwendung von standardisierten Komponenten verlassen, die im Voraus produziert und bei Bedarf montiert werden konnten. Dieses Produktionsverfahren, kam mit seinem Massivholzbiegeverfahren zu einem logischen Abschluss. Im Gegensatz zur traditionellen Möbelproduktion, die ausgebildete Tischler erforderte, konnte Thonet zudem Dank dieses Verfahrens mit entsprechend ausgebildeten ungelernten Mitarbeitern produzieren. Die Möbel konnten also quasi am Fließband, statt in Werkstätten produziert werden. Somit war das Zeitalter der industriellen Möbelproduktion in einem Dorf in Südmähren angebrochen.
Die Fabrik Koryčany begann 1958 mit der Produktion und 1859 realisierte Michael Thonet dort seinen nächsten großen Coup: den Stuhl Nr. 14, heute als Thonet 214 bekannt, und der wohl meistverkaufte Stuhl in der Geschichte des Möbeldesigns. Die realen Verkaufszahlen sind allerdings im Nebel der Zeit verloren gegangen. Die von Thonet angegebene Anzahl von rund 50 Millionen Stühlen bis 1930 wird wohl keine genaue sein, sie bildet aber den beispiellosen Erfolg des Stuhls und den enormen Produktionsumfang zwischen 1860 und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs ab. Dieser Erfolg ist vor allem auch darauf zurückzuführen, dass Thonet die Nr.14 zu einem, relativ, niedrigen Preis verkaufen konnte. Das lag zum einen an den Produktionskosteneinsparungen durch den Produktionsprozess, zum anderen an der Tatsache, dass Thonet, wie Mathias Schwartz-Clauss feststellt bis Ende der 1860er Jahre, "fast ausschließlich Großabnehmer" belieferte und, dass Thonet neben Kaiserpalästen seine Kunden "hauptsächlich unter den modernen Cafés, Hotels, Theatern und nahezu sämtlichen öffentlichen Einrichtungen" fand7. Außerdem konnte Thonet ungestört von Wettbewerbern agieren und so mit wesentlich geringerer Gewinnspanne produzieren.
In einer Zeit als sich Wien langsam von der Hauptstadt einer autokratischen Monarchie in die einer (wohlhabenden bürgerlichen) Zivildemokratie zu verwandeln begann, lieferte Thonet einen langlebigen, leichten, universellen, massenproduzierbaren, leicht reparierbaren, multifunktionalen Stuhl, der Dank des Patents von 1856 zu einem Preis verkauft werden konnte, der ihn für gewerbliche Kunden und damit als "Massenmarktprodukt" attraktiv machte. In einer Zeit vor der Massenproduktion existierten Massenmarktprodukte richtig. Wenn der Thonet-Katalog von 1904 die Nr. 14 als "erstes Konsumsessel" bezeichnet, ist das kein faules Marketing.Solche Massenmarktprodukte gab es also auch vor der industriellen Revolution und wenn der Thonet Katalog von 1914 den Nr.14 als "ersten Konsumsessel" bezeichnet, handelt es sich dabei nicht um faules Marketing.
Ein weiterer Faktor, der zum Erfolg des Nr. 14 beitrug war, dass das patentierte Verfahren einen globalen Handel ermöglichte. Schwartz-Clauss argumentiert, dass der Welthandel der Grund für das Patent von 1859 war: Die auf der Exposition Universelle 1855 angenommenen Auslandsaufträge zogen logischerweise den Versand der Stühle nach sich. Die bis dahin praktizierten Produktionsprozesse basierten allerdings weitgehend auf dem Biegen von geklebten Furnierstreifen, wurden diese Wasser ausgesetzt weichte der Klebstoff auf, schwächte die Streifen und führte zum Splittern. Folglich, betont Exner, "vertrug das Thonetsche Erzeugnis den Seetransport nicht".8
Das Biegen von Massivholz löste genau dieses Problem. Laut Schwartz-Clauss ging man den Schritt zum Biegen von Massivholz aufgrund eben dieser Transportproblematik und so kam es zur Entwicklung der berühmten Thonet-Schiffscontainer mit 36 demontierten Stühlen, die bei Ankunft weltweit und mühelos montiert werden konnten. Als das Patent am 10. Dezember 1869 auslief, war Thonet nicht nur fest als einer der führenden Player in der (noch nicht ausgereiften) internationalen Möbelindustrie etabliert, sondern verfügte auch über etablierte Vertriebskanäle, ein globales Netzwerk von Showrooms und Agenten sowie über die gesamte Erfahrung einer global operierenden Firma. Und all das Dank der Patente von 1842 und 1852, die es Michael Thonet ermöglichten sich zu etablieren, aber auch Dank des Patents der Gebrüder Thonet von 1856, das die schnelle, globale Expansion möglich machte. Warum also aufgeben?
Die kurze Antwort ist, sie hatten keine Wahl. Wie Jiří Uhlíř sehr detailliert beschreibt, reichte im Frühjahr 1869 die Firma Jacob & Josef Kohn, also eines der Unternehmen, das sich für einen Anteil am Thonet-Markt interessiert, Klage bei der Niederösterreichischen Statthalterei gegen das Patent mit der Begründung "Mangel an Neuheit" ein9. Und in der Tat lag genau hier der wunde Punkt des Unternehmens Thonet. So wie Michael Thonet in den 1830er Jahren das Biegen von Holzfurnier an sich nicht erfunden hatte, hatte Thonet 1856 auch das Biegen von Massivholz an sich nicht erfunden. Ein ähnliches Verfahren war bei Radladern und Schiffsbauern bekannt, was Thonet im Rahmen der Patentanmeldung von 1856 auch zugestanden und nur erklärt hatte, das "Neue" sei die Anpassung an Möbel. Kohn konnte vor allem den Nachweis bringen, dass viele frühere Beispiele für das Massivholzbiegen für die Möbelproduktion gab. Und als ein Gutachten von Experten der K.k. Mährischen Statthalterei am 14. Juli 1869 zu dem Schluss kam, dass sich "Hiernach [...] das strittige Privilegium... Wegen Mangel der Neuheit zu(r) vollständigen Annullierungen eignen"10 würde, wurde die Sache besiegelt.
Dass Thonet sein Patent vor dessen Annulierung aufgab, mag daran gelegen haben, dass Thonet zwar jeden Versuch das Patent gerichtlich aufzuheben hätte anfechten können, der Firma fehlte aber durch die sich ändernden Realitäten in Wien nicht nur der Schutz, den ein Fürst von Metternich einst bot, als florierendes Unternehmen musste sich Thonet vor allem auch auf die immer schneller expandierende Geschäftstätigkeit konzentrieren. Finanzieller und zeitlicher Aufwand werden schlicht zu hoch gewesen sein. Da sPatent hatte also gewissermaßen seinen Zweck erfüllt. Das traf auch weiterhin zu, denn obwohl in den Jahrzehnten nach 1869 immer mehr Unternehmen mit der Produktion von gebogenen Holzmöbeln begannen, kam keines der Dominanz von Thonet wirklich nahe - zumindest nicht vor dem Ersten Weltkrieg der Zeit seiner politischen und wirtschaftlichen Folgen.
Die Tatsache, dass Thonet ihr wichtigstes Patent "Wegen Mangel (an) Neuheit" verloren, ändert an unserem Verständnis von Michael Thonet und seinem Platz in der Möbelgeschichte absolut nichts.
1Mathias Schwartz-Clauss, Thonet: Pionier des Industriedesigns, 1830-1900, Vitra Design Museum, Weil am Rhein,1994
2Michael Thonet; ein gedenkblatt aus anlass der hundertsten wiederkehr seines geburtstages. 2 juli 1896. Von seinen söhnen und enkeln. Druck Friedrich Jasper, Vienna, 1896
3ibid.
4Bruno Otto, Die Entwicklung der mitteleuropäischen Bugholzmöbel-Industrie, University Erlangen, Staatswiss. Diss. 1932
5athias Schwartz-Clauss, Thonet: Pionier des Industriedesigns, 1830-1900, Vitra Design Museum, Weil am Rhein,1994
6ibid
7ibid
8Wilhelm Franz Exner, Das Biegen des Holzes, ein für Möbelfabrikanten, Wagen- und Schiffbauer, Böttcher etc. wichtiges Verfahren: mit besonderer Rücksichtnahme auf die Thonetsche Industrie, Voigt, Weimar, 1893
9Jiří Uhlíř, Vom Wiener Stuhl zum Architektenmöbel: Jacob & Josef Kohn, Thonet und Mundus; Bugholzmöbel vom Secessionismus bis zur Zwischenkriegsmoderne, Böhlau Verlag, Vienna, 2009
10ibid.
Der Weg, den Michael Thonet von seinen frühen Stühlen in Boppard bis zur Nr.14 eingeschlagen hat, ist einer der fortschrittlichsten - von den kunstvolleren, komplexeren Werken des frühen 19. Jahrhunderts bis hin zu viel leichteren, reduzierten, demokratischen Objekten. Eine Entwicklung, die das sich entwickelnde ästhetische Verständnis vorantrieb und bis heute als Inspiration für die kommende Generation von Architekten und Designern dient. Michael Thonet auf einen Produktionsprozess zu reduzieren, bedeutet, seine Bedeutung in der Geschichte des Möbeldesigns misszuverstehen.