Wie viele Geschichten kann eine Stadt erzählen? Es gibt die öffentlichen, kollektiven, kommunalen Geschichten, die von ihren Gebäuden, ihren Bewohnern, ihren Industrien, von der Entwicklung ihrer kulturellen Institutionen und von den Aktionen berühmt-berüchtigter Bürger erzählt werden; aber es gibt auch die unzähligen privaten, individuellen Geschichten, die skurrilen, die entsetzlichen, die romantischen, die komischen, die tragischen, die unwahrscheinlichen und natürlich die geheimen, die man sich nur zuraunt. Auf die Gefahr hin, wie eine Stadtmarketing-Plattform zu klingen: Eine Stadt ist die Summe ihrer Geschichten, und dabei immer im Fluss.
Für "Waidblicke #3" lud smow Köln ausgewählte Architekten, Architekturstudenten, Fotografen und Designer ein, um über die Kölner Stadtgeschichte(n) zu reflektieren.
"Waidblicke" wurde 2014 als Biennale-Event ins Leben gerufen und hat seinen Namen sowohl vom Waidmarkt, auf dem auch smow Köln ansässig ist und wo in vergangenen Jahrhunderten Wäsche mit Waid blau gefärbt wurde, als auch davon, dass die eingeladenen Kreativen im Rahmen des Projekts jeweils eine Installation für eines der vielen Fenster von smow Köln entwickeln und so Blicke auf und vom Waidmarkt anbieten.
Für die ersten "Waidblicke" war das Thema Stadt-Land-schafft, für "Waidblicke #2" wurde 2016 der Rhein im Rahmen des Themas Leben(S)fluss betrachtet, während für "Waidblicke #3" der Fokus von Köln und Kölns Geographie auf Köln und die Geschichte der Stadt verschoben wurde. Oder vielleicht eher auf Köln im Kontext der Geschichten der Stadt, von denen es so viele zu erzählen gibt: Die Geschichte der Stadt, die tatsächlich im Mittelalter begann, als "Kölle" sowohl im Heiligen Römischen Reich als auch in der Hanse eine zentrale Position einnahm und damit zu einem wichtigen religiösen, politischen und wirtschaftlichen Zentrum wurde - bis heute, wobei sich heute zusätzlich noch eine sehr zeitgenössische Form des Geschichten erzählens dazugesellt hat. Der Tourismus.
Für ihre "Waidblicke"-Installationen nutzten die eingeladenen Kreativen die lange Geschichte der Stadt voll aus oder interpretierten und verstanden diese Geschichte vielleicht besser, wobei, und das ist ausgesprochen erfreulich, alle Beteiligten die Möglichkeit ignorierten, die Geschichte des Kölner Karnevals einzubringen ... Aahhh, wir hoffen, damit jetzt keine Anregung für "Waidblicke #4" gegeben zu haben.
Ausgehend von den Anfängen der Kölner Geschichte oder zumindest von den legendären Aspekten der Kölner Frühgeschichte erinnert das Projektplanungs- und Projektmanagement-Unternehmen Vollmer|Angeler an die Legende der St. Ursula, der keltisch-bretonischen Prinzessin, deren Pilgerrunde nach ihrer Rückkehr aus Rom von Hunnen vor den Toren Kölns geschlachtet wurde. Der Hunnenfürst bot an, Ursula zu verschonen, wenn sie zustimmte, ihn zu heiraten, was diese jedoch ablehnte und somit ermordet wurde. Ihrem Martyrium wurde mit der Errichtung der St. Ursula-Kirche der Stadt sowie mit den elf Tropfen/Tränen, die sich im Kölner Stadtwappen befinden, gedacht - je eine für Ursula und die zehn Jungfrauen, die mit ihr starben. Und wie Vollmer|Angeler feststellt, "setzte Ursula mit ihrem Widerstand gegen Machtmissbrauch ein frühes Zeichen für Mut und weibliche Selbstbestimmtheit, das als starke Bewegung bis in die heutige Zeit hineinreicht".
In ähnlicher Weise haben die Corporate Architecture Studenten des Cologne Institute of Architectural Design (CIAD) ein Modell der Kölner Stadtmauer entwickelt, durch das sie die Entwicklung der Stadt bzw. die gesamte architektonische Entwicklung der Stadt diskutieren. So ergab sich unter anderem wieder einmal mehr eine neuartige Idee zur Nutzung des Stool-Tool von Konstantin Grcic für Vitra. Zwei weitere Installationen beleuchten im Gegensatz zur sichtbaren Stadtmauer verborgenere Entwicklungen, oder besser gesagt, sie reflektieren jene Entwicklungen, die versteckt worden sind, weil sie sich in Schichten unter der Stadt befinden. Das Architektenteam von Gatermann + Schossig konzentriert sich auf die Stadt als Ganzes und stellt ein Modell der Kölner Innenstadt auf eine Fülle von transparenten Schichten, die den Betrachter dazu anregen, über die Weite, den Reichtum und die Geschichte Kölns nachzudenken. Noch spezifischer war das Projekt der Architekten Holger Meyer und Caspar Schmitz-Morkramer a. k. a. meyerschmitzmorkramer: Sie haben ein Bodenprofil von dem erstellt, was theoretisch, sehr theoretisch, unter dem smow Köln Store zu finden ist - ein Profil, das die verschiedenen Epochen widerspiegelt, die der Standort erlebt hat, einschließlich seiner letzten Rolle als Standort einer Polizeistation, inklusive Ausnüchterungszellen im Keller. Man stelle es sich vor! Eine alkoholbezogene Geschichte im Zusammenhang mit smow Köln ...
Neben solchen Überlegungen zur Geschichte Kölns reflektiert das Team von JSWD Architekten einen ganz spezifischen, lokalisierten Aspekt, nämlich den des früheren Waidfärbens, welches traditionell auf dem heutigen Waidmarkt stattfand - insbesondere die Endphase dieses Prozesses, in der die getränkte Wäsche aufgehängt und es der Natur und der Chemie überlassen wurde, ihren Lauf zu nehmen und das Gewebe blau zu färben. Kommt der Begriff "Blau machen" etwa davon, dass an ebenjenem Tag die Färber nicht arbeiteten, sondern sich die Arbeit von selbst erledigte? JSWD Architekten scheinen davon überzeugt zu sein. Wir tendieren mehr zur Theorie des Montags-vor-Aschermittwoch ... oder verwechseln wir da die alte Geschichte von Fastenzeit/Ostern mit der zeitgenössischeren, rheinischen Geschichte?
Stadtgeschichte(n) müssen jedoch nicht historisch sein, sie können auch zeitgenössisch, ja sogar zukunftsorientiert sein, und mit seiner Fotoreihe von den Obergeschossen der Kölner Parkhäuser reflektiert der Architekturfotograf Constantin Meyer jüngere und zukünftige Kapitel der Geschichte der Stadt, wie sie in ihrer Stadtplanung erzählt werden, während er sich auf die Mobilität in Köln konzentriert und die Vielzahl der unterschiedlichen Faktoren, die die Entwicklung jeder Stadt bestimmen, schön hervorhebt. Genauso tut das in vielerlei Hinsicht der eigene Beitrag von smow Köln zu "Waidblicke", eine Installation, die den Büdchen der Stadt gewidmet ist. Wie in den meisten Städten kämpfen auch in Köln kleine unabhängige Geschäfte nicht nur mit der zunehmenden Zahl großer Supermarktketten, die in den Stadtraum vordringen, sondern auch mit der Entwicklung der Demografie, der sozialen Praktiken und der Stadtplanung, die sie oft entweder physisch durch den Wiederaufbau verdrängt oder durch Gentrifizierung verteuert. Für das Projekt interviewte Lotta Henrich, studentische Aushilfe bei smow Köln, verschiedene Büdchen-Besitzer und präsentiert sie und ihre Geschichten in Wort und Bild. In einem Holzbüdchen. Allerdings ohne das Kölsch. Obwohl doch fast der 11.11. ist ...
"Waidblicke #3" findet bis Mittwoch, den 15. November 2018 bei smow Köln, Waidmarkt 11, 50676 Köln, statt. Die Installationen können im Büdchen Store während der regulären Öffnungszeiten bestaunt werden (und durch das Schaufenster sogar 24/7!).
Details unter waidblicke.de