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Es ist wahrscheinlich zutreffend zu sagen, dass uns kein Objekt auf der IMM Cologne 2018 so verwundert hat wie der neue Stuhl 118 von Sebastian Herkner für Thonet. Nicht in einem schlechten Sinne, er hat uns einfach durcheinander gebracht. Schon klar - wer lässt sich schon von einem Stuhl durcheinander bringen. Uns passiert das aber regelmäßig, deshalb leben wir ja in diesem Chaos.
Der quadratische Holzstuhl ist einer der Archetypen des Stuhldesigns. Seine Geschichte geht zurück bis zum altgriechischen Klismos der Antike. Die Form ist vielleicht am besten repräsentiert durch ihre zahlreichen Erscheinungsformen des 20. Jahrhunderts, wie beispielsweise der Horgenglarus 1-380, jener allgegenwärtige Bistrostuhl; der sogenannte Frankfurter Stuhl der Nachkriegszeit; und aus jüngerer Zeit der Basel Chair von Jasper Morrison für Vitra. Und jetzt präsentiert Thonet mit dem "118" den "Offenbach" Stuhl, ein Wink auf Sebastian Herkners Heimat, und ein Name, der über genau jene respektlose Selbstironie verfügt, die dem Großteil der überwiegend, humorlosen Möbelindustrie so abgeht. Sebastians grundlegender Beitrag bei diesem visuell und physisch leichten Stuhl zu besagtem Genre ist die gerade Ausrichtung der Hinterbeine. Eine überaus befriedigende Konstruktion, die den Stuhl nicht nur wegrückt vom Klismos, sondern auch von allen folgenden Interpretationen. Eine Entwicklung, die dem Stuhl seinen individuellen Charakter verleiht: Die diagonale Schrägstellung leitet den Blick des Betrachters zum Zentrum und hilft so die Komposition zu verdichten, während die gerade Form ein Überdenken der Verbindung zwischen Sitz und Hinterbein sowie zwischen Lehne und Hinterbein erfordert. Und Sebastian Herkner hat die Sache sehr ordentlich überdacht. Der "118" ist mit einem hohen Level an Sitzkomfort und mit einer Auswahl an Sitzen und Rückenlehnen aus Korbgeflecht oder Formsperrholz ausgestattet. Es handelt sich um einen sehr zeitgenössischen und gut entwickelten Stuhl, bei dem wir uns sicher sind, das er zu einer wichtigen Komponente des Thonet-Portfolios werden wird.
Was ist an dem Stuhl aber nun verwirrend?
Gute Frage, auf dir wir am Ende keine Antwort haben. Darin mag die eigentliche Verwirrung liegen. Es verwirrt einen also die Frage warum man verwirrt ist? Ja, genau.
Wie regelmäßige Leser wissen werden sind wir immer sehr angetan, wenn Thonet sein Archiv untersucht. Auf der einen Seite, weil wir fest daran glauben, dass einer der sensibleren Ansätze des Möbeldesigns darin besteht Sachen weiterzuentwickeln, die es schon gibt, es nicht notwendig ist immer nach dem "Neuen" zu suchen. Zum anderen ist die Firma Thonet aufgrund ihrer Geschichte im Besitz eines sehr diversen Back-Katalogs voller Herausforderungen - ein Buch mit enormem Potential. Unter den Beiträgen Thonets zur Geschichte der quadratischen Holzstühle findet sich beispielsweise der B 1, ursprünglich herausgebracht im Jahr 1948 als Vereinfachung zahlloser früherer Modelle wie dem A 283, A 500 oder A 674. Der "118" kann als eine weitere, sensible Entwicklung dieser Linie aufgefasst werden.
Der "118" ist zwar unmissverständlich ein Thonet-Stuhl, aber eben auch ein Stuhl von Sebastian Herkner: Das diagonal geneigte, gerade hintere Bein findet sich auch in seinem Clip Chair für De Vorm; etwas versteckt im Talo für Sancal; oder stolz und selbstbewusst im Mittelpunkt von Mark für Linteloo. Beim "118" hat Sebastian Herkner die Sache etwas verfeinert und zeigt auch seine Liebe zum Detail: Indem er nämlich seinen Querschnitt an die Form des Sitzes anpasst und so ein sehr schlüssiges, logisches, in sich geschlossenes und wartungsarmes Möbel geschaffen hat.
Aber, aber, aber...?
Wir würden argumentieren, dass Evolution im Möbeldesign wünschenswert ist, Revolution ist allerdings eine Notwendigkeit, und die Thonet-Tradition ist prinzipiell eine der Revolution: gebogenes Holz im 19. Jahrhundert, gebogenes Stahlrohr im 20. Jahrhundert - diese Revolutionen machen Thonet zu dem Unternehmen, das es ist. Das ist, was Thonet auszeichnet, was Thonet die wenig beneidenswerten Prahlereien auf internationaler Bühne erlaubt, warum jeder junge Möbeldesigner davon träumt, mit Thonet zusammenzuarbeiten. Und auch auf persönlicher Ebene liegt darin einer der Gründe, warum wir das Unternehmen und sein Portfolio so sehr schätzen. Wichtig sind jedoch nicht die Produkte im Thonet-Portfolio, sondern das, was die Produkte repräsentieren. Die Bugholzstühle ermöglichten neue Produktions- und Vertriebsmodelle, die gebogenen Stahlrohre ermöglichten neue ästhetische und funktionale Standards. Beide führten dazu, dass Möbel demokratischer, relevanter und weniger anonym wurden. Neue Technologien, neue Materialien, ein neues Verständnis für soziale, ökonomische und ökologische Realitäten bedeuten, dass heute neue Ideen der Möbelproduktion, der Möbeltypologien und der Organisation der Möbelindustrie benötigt werden. Neue Ideen, die zeitgenössische Möbel demokratischer, relevanter und weniger anonym machen. Eine Firma wie Thonet ist gewissermaßen verpflichtet, dabei eine führende Rolle einzunehmen.
Zu behaupten, dass Sebastian Herkner diese neue Revolution nicht möglich macht, wäre natürlich schrecklich unfair. Wir sehen jedenfalls keinen Grund, warum Sebastian Herkner nicht an der Spitze einer mutigen neuen Zukunft des Möbeldesigns stehen kann. Außerdem geht es nicht um Sebastian Herkner. Es geht um den Stuhl.
Während der gesamten Thonet Geschichte spielte das hauseigene Thonet Design Team eine wichtige Rolle, so war beispielsweise der erwähnte B 1 ein internes Projekt, ebenso wie viele der gebogenen Stahlrohrmöbel aus den 1930er Jahren, die nach wie vor im Mittelpunkt des Thonet-Portfolios stehen. Das Thonet Design Team ist in vielerlei Hinsicht der Motor, der das Unternehmen antreibt. In den letzten Jahren hat das Thonet Design Team hervorragende Arbeit geleistet, indem es den Thonet-Backkatalog aufpoliert und neu formuliert hat. Es hat einige interessante und intelligente neue Ideen hervorgebracht, Ideen, die dazu beigetragen haben, einige längst vergessene, eigenwillige Objekte für zeitgenössische Kunden zugänglich zu machen. Für Kunden, die nach Alternativen zum kommerziellen Humbug suchen. Das Thonet-Portfolio wurde so sinnvoll erweitert. Doch damals wie heute kommt das Thonet Design Team immer dann am besten zum Einsatz, wenn es durch neue äußere Impulse angeregt wird, und wenn Thonet sich aus seiner Komfortzone herausbewegt, Konventionen in Frage stellt, und damit sein Design Team herausfordert. Herausfordert gemeinsam das Portfolio zu erweitern, neue Einflüsse zu begleiten, zu interpretieren und auszubauen, und gemeinsam mit Thonet Möbel und damit die Möbelindustrie in neue Richtungen zu bewegen. Wenn also Thonet mit externen Designern zusammenarbeitet, die immer auch ein Element der Gefahr beinhalten, sollte man sich also unserer Meinung nach überwinden und den Blick auf das Unbekannte öffnen. OK, ja, in den 80er Jahren hatte ein solcher Ansatz einige wirklich grausame Folgen, aber für uns ist das immer noch der richtige Weg.
Der "118" wirkt wie eine sichere Option. Er erweckt nicht den Eindruck eines Auftragsprojektes mit dem Ziel, die Thonet-Grenzen zu überschreiten, sondern sie zu stärken. Wenn man so will, erweckt er den Eindruck eines Projektes, das in Auftrag gegeben wurde, um Thonet wieder großartig zu machen. Das soll wiederum nicht heißen, dass wir den "118" nicht mögen, dass es sich dabei nicht um eine erfolgreiche Kooperation handelt - wir mögen ihn - und er wird auch kommerziell erfolgreich sein. Vielmehr sind wir der Meinung, dass er in die falsche Richtung weist. Vielleicht sind wir auch nur zu ungeduldig. Vielleicht ist der große Schritt nach vorne in Arbeit. Man könnte also sagen, wir mögen den Stuhl, sind aber verwirrt aufgrund einiger abstrakter, zugegebenermaßen unnötiger Überlegungen, die den größeren Kontext betreffen in dem der Stuhl in Auftrag gegeben wurde. Das mag sich idiotisch anhören, ist aber wohl zutreffend.