Die Besucher des Grassimuseums für Angewandte Kunst Leipzig können sich seit langem auf der Vitra Bench von Jasper Morrison ausruhen, einem großzügig über den gesamten Museumskomplex verteilten Objekt. Mit der Ausstellung "Thingness" bietet das Grassimuseum für Angewandte Kunst Leipzig dem Besucher einen tieferen Einblick in Jasper Morrisons Schaffen und kreative Prozesse.
Jasper Morrison, 1959 in London geboren und Absolvent des Kingston Polytechnic und des Royal College of Art, hat sich in den letzten dreißig Jahren als einer der führenden Designer seiner Generation etabliert und ein Portfolio von Arbeiten realisiert, die in ihrer Form ebenso reduziert sind wie in ihrem Verhalten. "Thingness" wurde zunächst 2015 im "Centre d'innovation et de design au Grand Hornu" gezeigt und ist die erste Retrospektive von Morrisons Karriere. Die Präsentation im Grassimuseum Leipzig ist nun nach Zürich und Berlin die vierte Station. Und unser drittes Rendezvous mit "Thingness".
Und das freiwillig. Wir sind vertraglich nicht verpflichtet, sie zu besuchen. Wir würden uns nicht über die Finanzspritze beschweren, wenn wir es wären. Sind wir aber nicht. Wir haben es uns selbst so ausgesucht. Nicht zuletzt deshalb, weil eine Ausstellung von dem Raum, in dem sie präsentiert wird, beeinflusst wird oder zumindest beeinflusst werden sollte, weil jeder Raum zwangsläufig eine andere Szenografie erfordert und weil die Art und Weise, wie die neue Szenografie mit dem inhärenten Ambiente des Raumes interagiert, neue Perspektiven und Eindrücke ermöglicht. Etwas bleibt jedoch gleich und so verweisen wir Sie, liebe Leserinnen und Leser, auf unseren Post aus dem Museum für Gestaltung Zürich, aber auch auf die A&W Designer des Jahres Preisausstellung in Köln, auf unsere Gespräche mit Jasper Morrison über seine Karriere, seine Herangehensweise an seine Arbeit sowie über "Thingness", und auf unseren Post aus dem Bauhaus Archiv Berlin über unsere Reflektionen von Morrisons Werk, der größtenteils, wenn auch nicht ausschließlich, in Zusammenhang mit unserem Lieblings-Jasper-Morrison-Text: "The Poet will not Polish" steht. Ein Text, der während eines Auslandssemesters im West-Berlin der 1980er Jahre verfasst wurde.
"Thingness" präsentiert eine chronologische Übersicht über Jasper Morrisons Werk, oder zumindest eine gekürzte Übersicht über seinen umfangreichen Kanon. Die Ausstellung beginnt mit Morrisons stets liebenswertem und verführerischem "Handlebar Table" von 1981 sowie dem, "Slatted Stool" für SCP von 1983, bevor es um seine spätere Karriere und die Entwicklung seines Designs, wie es in Projekten für u.a. Magis oder Vitra zum Ausdruck kommt, geht. Die ausgewählten Objekte werden durch kurze Texte, Skizzen und Fotografien unterstützt, die helfen, die Werke in einen Kontext zu setzen und/oder ihre Entstehung zu erklären. Über die Projekte an sich hinaus zeigt "Thingness" im Grassimuseum Leipzig auch Fotos aus seinem Projekt "The Good Life", ausgewählte Beispiele von Morrisons Publikationen und eine Präsentation von "A World Without Words", eine Diashow, die Morrison einmal in Köln statt des gewünschten Vortrags präsentierte. Während die Präsentation weitgehend die gleiche ist, wie sie bereits in Grand Hornu, Zürich und Berlin gezeigt wurde, ist in Leipzig der Unterschied, dass die Präsentationsmodule freistehend sind, d. h., dass man die Werke zum ersten Mal von hinten, sozusagen in 360°, sehen kann, was vielleicht wie "bla, bla, bla, was auch immer" klingen mag, aber wirklich hilft und die Betrachtung der Objekte unterstützt. Es bietet die Möglichkeit, sie aus verschiedenen Perspektiven zu erforschen, die es dem Besucher ermöglichen, sie besser zu verstehen. Das ist besonders interessant und unterhaltsam und sogar wichtig im Zusammenhang mit Arbeiten wie dem "Lenkertisch", dem "Thinking Man's Chair" oder dem "T1 Stuhl" für Maruni. Ein Stuhl, der langsam zu einem unserer Favoriten im Morrison-Kanon wird.
Darüber hinaus bedeutet die Tatsache, dass Morrison als Designer immer noch sehr aktiv ist, dass "Thingness" mit seinem Portfolio als Ausstellung wächst, oder vielleicht besser gesagt mit seinem Portfolio erweitert wird. Deshalb zeigt das Grassi-Schaufenster, logisch und erfreulich, neuere Projekte, darunter die Feder "Aion" für Lamy, die "Nijo" Sandalen für Camper und das in Zusammenarbeit mit Jaime Hayon gegründete Bekleidungslabel "Jijibaba". Nein wirklich? Morrison & Hayon?! Wer hätte das gedacht!
Unter den neueren Projekten ist der Höhepunkt für uns zweifellos der "1" Chair" für Emeco, ein Projekt, das für uns durch seine Einfachheit, Leichtigkeit, Proportionen und charmant ungewohnte Vertrautheit sehr treffend argumentiert, dass Jasper Morrison trotz der Länge der dargestellten Zeitleiste sich selbst und seinen Positionen treu bleibt. Und, was noch wichtiger ist, sich als Designer weiterentwickelt.
Aufgrund der Häufigkeit und Umgebungen, in denen wir nun "Thingness" gesehen haben, hatten wir gute Gelegenheit, ein Verständnis von Morrisons Arbeit und unsere Position zu entwickeln. Wie gesagt haben wir die Ausstellung jetzt schon dreimal gesehen. Der Designer Michel Charlot, ehemaliger Mitarbeiter im Pariser Büro von Morrison war von Anfang an für die Szenografie und Ausstellungsgestaltung verantwortlich - genau genommen seit "Thingness'" Vorgeschichte als Ausstellung von Morrisons Entwürfen aus den 1980er Jahren für den belgischen Einzelhändler Gyselink in Kortijk. Er hat die Ausstellung unzählige Male mehr gesehen als wir: nicht nur in seinen fertigen Formen, sondern auch in den Vorbereitungen für jede Ausstellung. Und so fragten wir uns laut, nachdem wir so lange mit den Werken von Jasper Morrison gearbeitet haben, gibt es irgendwelche Projekte, die für ihn herausragend sind, die besonders nachhallen?
"Generell gefallen mir die Arbeiten, die er in den 90er Jahren gemacht hat, sehr gut", antwortet Michel Charlot, "ich denke, dass einige seiner besten Arbeiten aus diesem Jahrzehnt stammen, darunter zum Beispiel die "Glo-Bälle" für Flos. Es ist ein so einfaches Objekt, eine einfache Form, die an sich nicht neu ist, die er aber in einem Material und mit so wohldurchdachten Proportionen realisiert hat, dass es keine Möglichkeit mehr gibt, sie zu verbessern. Das nenne ich ein "Killer-Projekt", d. h. wenn mich ein Hersteller darum bittet, eine Hängeleuchte aus Glas zu produzieren, verneine ich, weil ich den "Glo-Ball" nicht verbessern kann."
Ein ähnliches "Killer-Projekt", wenn auch aus einer späteren Zeit, ist für Michel Charlot die Stuhlfamilie "HAL" für Vitra, ein Projekt, von dem Charlot vor allem im Hinblick auf den Komfort und die Anzahl der möglichen Variationen von Typologie und Funktion begeistert ist, während er über solche traditionellen Produktdesignprojekte hinaus und in die 1990er Jahre zurückkehrend auch die Straßenbahn von Morrison in Hannover hervorhebt. Dieses Projekt wurde im Rahmen der Weltausstellung Expo 2000 realisiert. "Ich bin ziemlich eifersüchtig auf ein solches Projekt, darauf, einfach eine Straßenbahn entwerfen zu können", erklärt Michel Charlot, "es ist eine wunderbare Sache für die Stadt Hannover, eine solch qualitativ hochwertige, gut gestaltete Straßenbahn zu haben, nicht zuletzt, weil sie einen großen Einfluss auf den Nutzer haben kann. Z. B. hatten Schweizer Züge früher wirklich schöne Restaurant-Wagen, nicht unbedingt gut ausgestattet, aber mit einer wirklich netten Atmosphäre, aber in letzter Zeit wurden diese umgebaut, in ein zeitgenössisches Coffee-Shop-Konzept verwandelt, und es ist schrecklich. In gewisser Weise hat es meine letzte Reise ruiniert, weil ich meine Zeit im Restaurant-Wagen vorher genossen habe. Und das ist für mich ein Beispiel dafür, wie sich Design auf einen Raum und das Individuum auswirken kann, dass ein gutes Design einen positiven Einfluss auf den Nutzer haben kann. Ähnlich wie bei den Straßenbahnen in Hannover, gut gestaltete öffentliche Verkehrsmittel sind gut für die Nutzer, gut für die Stadt. Ein gut gestaltetes Hotel kann z.B. deine Stimmung und dein Selbstvertrauen positiv beeinflussen.
Diese Vorstellung von der Bedeutung des Raumes ist eine Parallele zu dem, was wir anfangs über verschiedene Ausstellungsorte mit unterschiedlichen Ausstellungserfahrungen bemerkt haben. In Leipzig ermöglicht die Nutzung des Raumes - und zwar durch Michel Charlots intelligentes, rationales und wohlüberlegtes Präsentationskonzept - eine klare und ungestörte Sicht auf die Objekte, während der Slalompfad, den man beschreiten muss, eine sehr ruhige Atmosphäre schafft. Du verlangsamst dich natürlich, schlenderst ein wenig, fühlst nicht, dass das nächste Objekt auf dich zukommt wie auf einem Förderband, während du durch die Tatsache, dass sich links und rechts Objekte befinden, leichter vergleichen und kontrastieren kannst und diese Themen und Ansätze, die für Jaspers Morrisons Arbeit so grundlegend und wesentlich sind, erforschen kannst. Sei es die Verfeinerung bestehender Konzepte, der innovative Einsatz von Materialien und Verarbeitungstechnologien, die Förderung des Normalen über das Außergewöhnliche hinaus, die Entwicklung flüchtiger Beobachtungen zu greifbaren Produkten oder einer jener anderen Ansätze, die Jasper Morrison im Laufe der Jahrzehnte verfeinert hat, um es sich zu ermöglichen, irreführende Arbeiten zu schaffen, Objekte, die auf mehreren Ebenen existieren. Sie sind oft von Natur aus komplex, haben aber eine fast entschuldigende und doch sehr liebenswerte Einfachheit. An Jasper Morrisons Arbeiten gibt es nichts Angeberisches, Selbstdarstellendes zu sehen und dennoch ist es unwahrscheinlich, dass sich der Großteil seines Portfolios in einer Menschenmenge verirrt.
Solch ein Verständnis von Jasper Morrison sowie von Extrapolationsdesign kann man in "Thingness" lernen - aber was hat Michel Charlot aus seiner Zeit mit Jasper Morrison gelernt? "An seine Idee zu glauben, an seiner Idee zu arbeiten und nicht schnell auf Ideen zu verzichten. Ideen sind das Eine, aber was man damit macht, ist das Wichtigste, eine Idee zu vereinfachen und sie zu etwas zu machen, das auf eine Art und Weise offensichtlich ist", reflektiert er, "auch wenn dies es schwierig machen kann, ein Projekt einem Kunden vorzustellen, weil dieser sagt: 'Es ist offensichtlich!' Ja! Weil ich viel Zeit und Mühe investiert habe, um es deutlich zu machen, es war vorher ganz und gar nicht offensichtlich!"
In unserer heutigen Welt neigen wir alle dazu, oberflächliche Offensichtlichkeit zu akzeptieren, anstatt zu versuchen, die komplexeren zugrunde liegenden Realitäten zu verstehen. "Thingness" ist ein ausgezeichneter Ort, um die komplexe Offensichtlichkeit guten Designs zu verstehen. Und mit der "Morrison Bench" haben Sie einen gemütlichen Platz zum Sitzen, während Sie darüber nachdenken.
"Jasper Morrison - Thingness" ist bis Samstag, 06. Mai 2018 im Grassimuseum für Angewandte Kunst, Johannisplatz 5-11, 04103 Leipzig, zu sehen.
Details und Informationen zum Begleitprogramm unter www.grassimuseum.de.
Infos zu Michel Charlot unter https://michelcharlot.com/.