Aus Gründen offenbar übernatürlicher Art, kommen alle Langstreckenzüge in Deutschland durch den Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe. Die Deutsche Bahn hat darauf keinerlei Einfluss, vielmehr handelt es sich um ein natürliches Phänomen, oder, wie es der amerikanische Architekt Louis H. Sullivan wohl formuliert hätte "This is the law!".
Wir sind also schon häufig durch Kassel gefahren, ohne aber jemals die Stadt besucht zu haben. Ein Missstand, den wir dieses Jahr behoben haben - und zwar mit einem Besuch der Rundgangsausstellung der Kasseler Kunsthochschule.
Zwar geht die Geschichte der Institution Kunsthochschule Kassel bis auf das Jahr 1777 zurück, der Bereich Produktdesign steckt allerdings noch in den Kinderschuhen. In dem ursprünglich im Jahr 1869 als Kunst- und Handwerksschule gegründeten Produktdesignbereich sollten angewandte Künstler ausgebildet werden Produkte zu entwickeln, die dem neuen Zeitalter und den neuen Formen der industriellen Massenproduktion gerecht würden. Erst im Jahr 1971 wurde ein Produktdesignbereich als solcher an der Kasseler Kunsthochschule etabliert.
Vielleicht aufgrund dieser Geschichte hat der Studiengang in Kassel heute einen stark ausgeprägten praktischen, handwerklichen Fokus und bietet eine vollendete Spezialisierung in den Bereichen Industrie-, Textil-, System- oder Möbeldesign an. Vor der Spezialisierung müssen allerdings alle Studenten das Grundstudium absolvieren. Beim Rundgang 2016 war z.B. das Grundseminar "Einmischen" dokumentiert. Bei dem Kurs des Aust & Amelung Designstudios - beide sind Absolventen der Kasseler Kunsthochschule - sollten die Studenten Prozesse, Räume und Objekte aus der Umgebung der Kunsthochschule untersuchen und sie als Ausgangspunkt für ein neues Projekt nutzen. Bei "Brandrunner" von Prof. Lutz Pankow und Ines Göbel wurden die Studenten in die Rolle des Art-Directors einer Marke und des Freelance Designers gleichermaßen versetzt: Sie sollten einerseits anderen Studenten einen Auftrag für die Produktentwicklung einer bestimmten Marke geben, und auf der anderen Seite ein Produkt entsprechend dem Auftrag ihrer Kommilitonen entwickeln. Außerdem gab es einen, für uns eher enttäuschenden, Readymade-Kurs unter Leitung des Raw Edges Design Studio. Unserer Erfahrung nach experimentieren früher oder später die meisten Designstudenten an irgendeinem Punkt ihres Studiums mit Readymades, insofern besteht unserer Meinung nach kein Grund die Studenten extra dazu anzuhalten.*
Neben dem Grundstudium präsentierte der Rundgang 2016 die Resultate zahlreicher Semesterprojekte und Klassen: darunter Yellow Pages, wo Studenten unter der Leitung von Raw Edges lokal praktizierte Handwerke lernten, bevor sie ihr Wissen in die Entwicklung eines Objektes übertrugen; Wohnaccessoires untersuchte, wie Objekte die physische, psychologische und soziale Atmosphäre von Räumen beeinflussen; und dua meets Kunsthochschule Kassel - der Name verrät es bereits - beinhaltete eine Kooperation zwischen Studenten und dem Kölner Label bzw. der Kölner Designagentur dua.
Wie immer, und wir werden es auch in dieser Woche nicht müde es zu wiederholen, geht es bei Studentenprojekten nicht um das Endresultat - es geht darum, wie Studenten auf eine Aufgabe reagieren, welchen Rahmen sie für eine Lösung finden, wie sie sich der Aufgabe nähern und was sie auf dem Weg lernen. Das letztendliche Produkt ist eher nebensächlich und kann noch so unsinnig ausfallen.
In ähnlicher Weise geht es beim Besuch von Rundgangsausstellungen nicht darum "neue", "innovative" Projekte zu "entdecken", sondern darum ein Gefühl dafür zu bekommen, worum es den Studenten geht, zu erfahren, was und wie sie gelernt haben, welche Werkzeuge, Materialien und Ansätze zum Einsatz kommen, und darum wie gut die Cafeteria ist.
Abgesehen davon gab es einige Projekte in der Ausstellung, die unsere Herzen ein wenig höher schlagen ließen...
Entwickelt wurde Rautenhag im Kontext des Projektes Schnalser Säge, bei dem die Studenten mit der gleichnamigen Tiroler Firma, einer Firma, die mit traditionellen Methoden diverse Objekte aus Zirbenholz herstellt, zusammenarbeiteten. Rautenhag ist ganz einfach ein Stück Holz, das an einem Stück Leder befestigt ist, das man wiederum an der Wand befestigt. Unbenutzt hängt Rautenhag also einfach an der Wand - in Gebrauch ist das Stück ein überaus praktischer Haken. Ein Stück Leder an der unteren Seite des Holzstückes liefert zusätzliche Reibung, und schützt die Wand. Für uns funktioniert Rautenhag auf verschiedenen Ebenen: einerseits ist es eine schöne, einfache Lösung, die einen wirklich praktischen, alltäglichen Kleiderhaken nicht nur interessant macht, sondern auch den Nutzer mit einbezieht. Zudem hat das Objekt etwas wunderbar Temporäres. Es gibt zahlreiche Kleiderhaken auf dem Markt, die sich dank zahlreicher Methoden aus und wieder einklappen lassen; allerdings sind sie alle mit einem Wandstück verbunden und haben so einen festgelegten Umfang und etwas Permanentes. Rautenhag hängt einfach an der Wand, wenn es nicht benutzt wird - und das nicht auf besonders geschönte oder attraktive Art und Weise - und behält so einen angenehm flüchtigen Charakter. Die Verbindung dieser temporären und simplen Eigenschaften mit einem Objekt aus Schweizer Zirbenholz ist zudem so dekadent und luxuriös wie lässig und unaufgeregt. Alles in allem also absolut reizend.
Das erste Produkt von George Nelsen - im Grunde das einzige Produkt, das George Nelson jemals designte, und das zu seiner Verabredung mit Herman Miller führte - war die Storagewall. Im Grunde eine leere Wand, die man als Regal nutzen kann. Nelsons Logik war, dass wenn die leere Wand schon da sei, man sie auch nutzen könne. Wir mussten augenblicklich an Nelsons Storagewall denken, als wir Garten von Monja Hirscher sahen. Mit dem Rahmen, der Wasserschale und der Beleuchtung entwirft Monja das Objekt als Garten für das Wohnzimmer, den man an seine Wand hängen kann. Oder vielmehr ist das Objekt ein Garten, den man in seiner Wand platzieren kann, und zwar nicht nur im Wohnzimmer. Die Mauern mögen heute nicht so dick sein wie in den 1940er Jahren in Amerika, vor allem interne, nicht tragende Wände nicht, aber dort, wo die Wände ausreichend tief sind, bietet ein modulares System wie Garten die Möglichkeit Lücken zu kreieren, die für Pflanzen und als Ablage genutzt werden können, und die darüber hinaus Teil der Raumarchitektur und des Beleuchtungskonzeptes werden. Ja, das hört sich alles mehr nach einem Architekturbestandteil an, aber genau das war die Storagewall am Ende ja auch.
Holzspäne mit einem Bindematerial zu mischen und als Basis für die Möbelentwicklung zu nutzen, ist keine neue Idee; allerdings nutzen Designer diese Mischungen in fast allen Fällen dazu Möbel mit mehr oder weniger üblichen Formen zu kreieren. Alternativ könnte man auch sagen "Neues Material. Neue Form" - das wäre mit Sicherheit der bessere Weg, und ist der, den Jan Emde eingeschlagen hat. Wir würden nicht gerade sagen, dass uns gefällt, was Jan kreiert hat - im Grunde ist genau das eher nicht der Fall. Für uns erinnern die Objekte etwas zu sehr an Antoni Gaudí und fast schon an die inakzeptablen Theorien Rudolf Steiners. Man sieht förmlich, wie die nackten Reformer des 19. Jahrhunderts ihren blumigen Weg zum Jugendstil entlang tanzten. Trotz allem sind die Formen neu und sie stellen zumindest den Versuch dar, ein neues Material zu nutzen, mit akzeptierten Standards zu brechen und neue Bereiche zu erforschen. Unkonventionelle Materialien und Prozesse ermöglichen unkonventionelle Formen, die wiederum erst neue Konventionen im Bereich Produkt und Möbeldesign möglich machen - eine Tatsache, die Jans Projekt auf wunderbare Art und Weise verkörpert.
Ja wir geben offen zu, dass für uns eine der interessanteren, historischeren Designveranstaltungen die Ausstellung Kaufhaus des Ostens, KdO, in der damaligen Hochschule der Künste in Berlin war. Und ja, da ging es um Readymades. Im Kontext dieser Ausstellung schrieb Jasper Morrison einen unserer liebsten Designtexte "The Poet will not Polish" mit dem wunderbar bösartigem Statement: "Marcel Breuer sah ein Paar Fahrradgriffe und entschied sich Stühle mit dem gleichen industriellen Prozess herzustellen. Der Erbauer der neuen Welt sieht ein paar Fahrradgriffe und entscheidet sich, sie so zu belassen wie sie sind und sich die Mühe und Kosten zu sparen das Stahlrohr zu biegen" Aber das war 1984 - vor mehr als dreißig Jahren. Überlassen wir die Readymades also dem urbanen Müllveredelungshandwerk.