Am 5. Februar 1916 eröffnete in Zürich das Cabaret Voltaire, folglich feiert die Stadt im Jahr 2016 den 100. Geburtstag des wahrscheinlich wichtigsten Beitrags der Schweiz zur Weltkultur-Dada.
Daher passt es gut, dass in der Stadt in diesem Jahr auch eine Retrospektive des englischen Designers Jasper Morrison ausgestellt wird.
Nein. Ehrlich.
Jasper Morrison wurde 1959 in London geboren und studierte zunächst Design am Kingston Polytechnic, bevor er am Royal College of Art in London seinen Masterabschluss erlangte. Im Studium war ein einjähriger Stipendiumaufenthalt an der Hochschule der Künste Berlin (HdK) inbegriffen.
Jasper Morrisons Entscheidung, eine Karriere im Bereich Design und besonders Möbeldesign einzuschlagen, geht allerdings auf die Mitte der 1970er Jahre in London und damit auf ein Ereignis zurück, das auf den ersten Eindruck wenig Sinn ergibt, näher betrachtet aber sehr logisch ist: eine Ausstellung mit Arbeiten von Eileen Gray.
"Zu dieser Zeit wollte ich etwas in Richtung Architektur oder Design machen, das war alles sehr vage", erklärt Jasper Morrison die Gedanken seines Teenager-Ichs, "und als ich die Eileen-Gray-Ausstellung sah, war das eine Art Offenbarung. Ich verstand, was sie tat, ich sprach dieselbe Sprache und ich war so beeindruckt von ihren Arbeiten, dass ich mich für eine Karriere im Bereich Möbeldesign entschied."
Hat ihn die Einfachheit so begeistert oder der Umfang, die Klarheit?
"Ich glaube, es war die strukturelle Anordnung, ich konnte sie verstehen, wusste, wieso sie das tat, verstand die Linien und alles ergab für mich Sinn."
Dass Jasper Morrison eine Eileen-Gray-Ausstellung besuchte, könnte man als Wink des Schicksals bezeichnen. Bis zu den frühen 1970er Jahren war Eileen Gray eine der großartigen vergessenen Designerinnen des 20. Jahrhunderts. Lediglich infolge einer Auktion einiger ihrer Arbeiten im Jahr 1972 in Paris wurde wieder die Aufmerksamkeit auf sie gelenkt und Interesse geweckt. Ein paar Einrichtungen zeigten schließlich auch Ausstellungen über Eileen Gray.
1982 hatte wieder das Schicksal seine Hand im Spiel. Diesmal in Mailand.
"Zu dieser Zeit hatte ich eine italienische Freundin und sie kannte Bepi Maggiori, einen italienischen Journalisten, der für Casa Vogue schrieb. Während der Messe in Mailand war ich eines Abends auf einem Event im Luna Park, stand mit ein paar Leuten zusammen und fragte, ob jemand wüsste, wo ich Bepi Maggiori finden könnte. "Das bin ich", antwortete der Mann mir gegenüber."
Zu der Zeit war Bepi Maggiori in die Mitorganisation eines Treffens europäischer Designer involviert. Das Meeting names "Rastlos, Design on the Border" sollte in der Raststätte "Rastlos" stattfinden, die sich in der Nähe der österreichischen Stadt Eisenstadt nahe der ungarischen Grenze befand.
"Damals trug ich eine Kodak Dia-Box mit Dias meiner Arbeiten mit mir herum", so Morrison. "Ich zeigte sie Bepi und er lud mich zum Rastlos-Treffen ein. Ich stieg ohne Produkte, lediglich mit meinen Dias, in eines der Autos, die von Mailand aus losfuhren. Das Event erschien mir wie ein großes Abenteuer. Da waren Designer aus ganz Europa und so konnte ich anfangen, ein Netzwerk von Kontakten quer durch Europa aufzubauen."
Unter den Teilnehmenden waren Piero Castiglioni, Stefano Giovannoni, Studio Alchimia und, was vielleicht am wichtigsten war, Andreas Brandolini, der später den Anstoß zu Morrisons Jahr in Berlin gab und mit dem Jasper Morrison später viele Projekte entwickelte. Und das Konzept der Nutzlosigkeit - Design eher um des Designs willen als für einen Sinn, Zweck oder Nutzen.
Die Frage, wie wichtig das Rastlos-Meeting für die zukünftige Entwicklung der Karriere des damaligen Studenten Morrison war, beantwortet er, eher weniger in Morrison-Manier, auf emphatische Weise: "Sehr wichtig. Das war mein Durchbruch in Europa! Ich denke, wenn ich in London geblieben wäre und diese Chance nicht bekommen hätte, wäre es sehr viel schwieriger gewesen."
London war allerdings die Stadt, in der Jasper Morrison erste kommerzielle Erfolge verzeichnete.
Unter Jasper Morrisons ersten Kunden war der in London ansässige Möbelhersteller SCP und der Händler/die Galerie Aram. SCP produzierte und vertrieb als Erster Morrisons Designs und begann 1983 mit dem Slatted Stool. Neben der Tatsache, dass es eine schöne Verbindung zurück zu Eileen Gray ergibt, hat Aram die weltweiten Lizenzen für alle Arbeiten von Eileen Gray und Zeev Aram war ein persönlicher Freund der Designerin. Er zeigte und verkaufte auch die handgefertigten Originalversionen von Morrisons Thinking Man's Chair, bevor Cappellini die Herstellung und den Vertrieb des Produkts übernahm. Der Rest, so sagen sie, ist Geschichte.
Und die Ausstellung "Thingness".
Ursprünglich wurde "Thingness" 2015 als Teil des Programms der europäischen Kulturhauptstadt Mons im Centre d'innovation et de design (CID) Grand-Hornu in Belgien ausgestellt. Die Ausstellung wurde chronologisch strukturiert und ermöglicht einen leicht zugänglichen Rundgang durch 30 Jahre Design von Jasper Morrison, oder zumindest 30 Jahre kommerzielles Design von Jasper Morrison. Leider werden keine Konzepte oder unvollendeten Prototypen gezeigt. Leider, weil alle Kreativen die Summe ihrer Erfolge und der Sackgassen sind, in die sie naiv hineinschlenderten. Nicht nur der Erfolge. "Thingness" beginnt mit dem immer noch großartigen Handlebar Table aus dem Jahr 1981, den Morrison selbst als Zehner-Edition produzierte. Dann geht die Ausstellung munter über zu Objekten wie dem Plywood Chair für Vitra, dem Low Pad Chair für Cappellini, dem Air-Chair für Magis oder dem December Chair für Nikari. Ja, es geht überwiegend um Stühle. Überwiegend, aber nicht ausschließlich. Projekte wie das Rotary Tray für Vitra, die Leuchte Glo-Ball für Flos, Knife Fork Spoon für Alessi oder die Scamp Bag für Maharam haben auch ihren Platz.
Das Ausstellungsdesign spiegelt sich in wenigen Objekten auf weißen Podesten und erhöhten Holzplattformen wider. Ein reduziertes Ausstellungsdesign-Konzept mit mehr als ausdrucksstarken Kurztexten zu den Arbeiten, kurzen Essays von Morrison über Design, einfachen Zeichnungen und Fotos, die die Arbeiten in einen Kontext setzen. Die von Morrison verfassten Texte verdeutlichen nicht nur, wie die Objekte entstanden sind. Dank Morrisons leichtem, ordentlichen Schreibstil bringen sie dem Besucher den Designer Jasper Morrison auch näher. Ein professionellerer Design-Journalist würde an dieser Stelle zweifellos anmerken, dass Morrisons Schriftsprache genauso klar und schnörkellos ist wie seine Designsprache.
Die Art der Ausstellung und die Tatsache, dass einige Texte direkt von Morrisons Website kommen, vermittelt mitunter den Eindruck, als handele es sich um eine Offline-Version seiner Online-Präsenz, seine permanente Online-Retrospektive, wenn man so will. Dennoch ist genau das die Stärke der Ausstellung, wie es auch bei Okolo Offline im Depot Basel der Fall war: Nur, wenn wir Designarbeiten physisch vor Augen haben, sie vergleichen und betrachten, können wir sie verstehen. Produktdesign ist etwas Physisches und kann nur physisch wirklich entdeckt werden.
Zusätzlich zu der Retrospektive über Morrisons Arbeiten enthält "Thingness" auch eine Abteilung namens "MyCollection", in der 63 Objekte ausgestellt werden, die Jasper Morrison aus der Sammlung des Museums für Gestaltung ausgewählt hat. Für jedes gibt es einen kurzen Text von Morrison, in dem er erklärt, was ihm an den einzelnen Arbeiten zusagt: Die Kurztexte sind in derselben direkten, unkomplizierten Sprache verfasst, wie die "Thingness"-Texte. "MyCollection" enthält eine Mischung aus Möbel-, Produkt- und Grafikdesigns und zeigt Arbeiten von Schweizer und internationalen Designern wie zum Beispiel Ueli Berger, Jürg Bally, Hans Coray oder Rex Kralj und viele Arbeiten mit der Angabe "Unbekannt". Als intelligent konzipierte und gut umgesetzte Ausstellung ist "MyCollection" eine hervorragende Ergänzung zu "Thingness", denn sie bringt den Besucher etwas näher an den Designer Jasper Morrison heran, als es "Thingness" allein tun würde. Und sie mindert ein wenig die Enttäuschung über fehlende Konzepte und nicht realisierte Prototypen.
Der Titel der Ausstellung spielt sehr schön mit dem Konzept "The Thing"/"Die Sache", einem Konzept und Wort, das Jasper Morrison durch den Großteil seiner Karriere begleitet hat. "Thingness" zeigt allerdings deutlich die eine "Sache", die in Morrisons Arbeiten fehlt, nämlich jegliche Referenz oder jeglicher Hinweis auf das "Internet der Sachen". Jasper Morrisons Arbeiten sind in Sachen Material, Form und Funktion konsequent analog und haben nur wenig Verbindung zum digitalen Zeitalter, weitaus weniger Verbindung zu einem digitalen Highway der endlosen Möglichkeiten. "Ich denke, ich bin eher ein analoger Typ", antwortet Morrison auf unsere Frage, ein Statement, bei dem wir sicher sind, dass ihm niemand widersprechen würde oder könnte. Dieser analoge Zustand hat nichts mit Luddismus zu tun, sondern spiegelt eher Morrisons Designverständnis und Verantwortlichkeiten wider. "Als Designer möchtest du, dass deine Designs gut aussehen und für immer funktionieren, nicht nur zwei oder drei Jahre."
Denkt er das bei "Thingness"?
"Zwischendurch wackelt es etwas, aber im Großen und Ganzen ja."
Jasper Morrison wurde zuerst von der Funktionalistin Eileen Gray inspiriert, bevor Memphis und die Post-Modernisten der 1980er Jahre seine Fantasie bereicherten. Er entwickelte schnell einen rationaleren Ansatz und kombinierte die Direktheit der 1980er Jahre mit der Reduziertheit der 1920 und 30er Jahre, um seinen eigenen Ansatz zum Design umzusetzen. Ein post-industrielles Weniger-ist-mehr, das sich auf den Kern des Objekts konzentriert und den Arbeiten so eine Zugänglichkeit und einen Alltagsrealismus verleiht, der einigen der dogmatischeren Beispiele des modernistischen und post-modernistischen Designs viel zu häufig fehlt. Aber wo sieht Jasper Morrison die Beziehung zwischen Form und Funktion? Gibt es eine.......?
"Das beschäftigt mich nie so sehr", so Morrison, "man braucht eine Form und eine Funktion, aber sie sind mit anderen Dingen verflochten, die ebenso wichtig sind, wie Material, Komfort, Wirtschaftlichkeit, Langlebigkeit."
Wir wagen zu fragen, ob es bei seiner Arbeit mehr um die Entwicklung einer Idee oder gar eines Ideals geht, als um ein Produkt an sich.
"Ich suche nach Atmosphäre, nach einer atmosphärischen Wirkung, nach der Atmosphäre, die ein Objekt ausstrahlt. Wenn man zum Beispiel den Thinking Man's Chair in einen leeren Raum stellt, dann sorgt er für eine andere Atmosphäre, als es der Plywood Chair tun würde."
Oder anders, wenn man den Thinking Man's Chair neben den Plywood Chair in einen Raum mit Jasper Morrisons Designs stellt, dann bekommt man eine sehr gute Vorstellung von der Konsistenz, Rationalität und Selbstverständlichkeit, mit der Jasper Morrison seine Ideen und sein Verständnis von Design in den letztens drei Jahrzehnten entwickelt hat.
Jeder, der Jasper Morrisons Werk gründlich studiert hat, wird wenig Neues in der Ausstellung "Thingness" finden, vielleicht dennoch in "MyCollection".
Das haben nur sehr wenige getan und die Mehrheit kennt Jasper Morrison folglich nur durch die eine oder andere kommerziell erfolgreichere Arbeit. Alle, die Interesse an zeitgenössischem Design haben, werden eine ganze Menge Neues, Überraschendes, zum Nachdenken Anregendes und Unterhaltsames in "Thingness" finden.
Besonders aber viele logisch strukturierte Arrangements, klare Linien und eine verständliche Sprache.
Und dann kam Dada.......
Hat Dada in Jasper Morrisons Leben eine Rolle gespielt, abgesehen von der Verbindung zwischen Duchamps Readymades und vielen von Jasper Morrisons früheren Arbeiten, wie dem Flower Pot Table, der Laboratory Lamp und dem bereits erwähnten Handelbar Table?
"Ja, eine große sogar. Während ich Design an der Kingston studierte, hatte ich einen kleinen Nebenjob als Secondhand-Buch-Verkäufer und konzentrierte mich besonders auf den Surrealismus und Dada, genauso wie auf Architektur und Design, es bestand also Interesse und es gab einen frühen Einfluss."
Weniger ist mehr, avantgardistisch und surreal!
"Jasper Morrison - Thingness" läuft bis Sonntag, den 5. Juni im Museum für Gestaltung, Toni-Areal, Pfingstweidstrasse 96, 8005 Zürich.
Zusätzlich zu der Ausstellung hat das Museum ein begleitendes Rahmenprogramm organisiert, alle Details gibt es auf www.museum-gestaltung.ch.