"Der Vater von Eero..." So oder so ähnlich heißt es in weiten Kreisen üblicherweise, wenn man über den finnischen Architekten und Stadtplaner Eliel Saarinen spricht. Eine höchst unzulängliche Betitelung, die in vielerlei Hinsicht verleugnet und ignoriert, wie viel mehr es zu dem Mann und seinen Talenten zu sagen gibt und gab.
Gottlieb Eliel Saarinen wurde am 20. August 1873 in der abgelegenen Stadt Rantasalmi im Osten Finnlands geboren, wo sein Vater als evangelischer Pastor tätig war. 1875 wurde der Vater in eine Finnisch sprechende Gemeinde nahe Sankt Petersburg versetzt, wo auch der junge Saarinen lebte, bis er im Alter von 10 Jahren aufs Internat in Vyborg geschickt wurde. 1890 wechselte Eliel Saarinen auf das Finnische Real Lyceum in Tampere bevor er sich 1893 gleichzeitig in der Architekturfakultät des Polytechnischen Institutes und an der Kunstfakultät der Universität in Helsinki einschrieb, wo er Malerei studierte. Laut Saarinen war "ersteres die Entscheidung eines kühlen Verstandes, letzteres das Verlangen eines warmen Herzens"
1896, noch während er Student war, gründete Eliel Saarinen ein Architekturstudio gemeinsam mit seinen Kommilitonen Herman Gesellius und Armas Lindgren. Inspiriert von Louis H. Sullivan, Henry van de Velde, Otto Wagner und ihresgleichen begann das Trio, zeitgenössische architektonische Konventionen in Frage zu stellen und formulierte, bewaffnet mit der Unbezwingbarkeit der Jugend, eine eigene Antwort auf die Herausforderungen ihrer Zeit. Mit Rückblick auf die Jahrtausendwende würde Saarinen später sagen "Architektur war eine tote Kunstform. Sie war stetig zu einem Geschäft geworden, bei dem man veraltete und bedeutungslose stilistische Verzierungen auf die Oberflächen von Gebäuden drängte. Und es war ein Frevel mit diesem Vorgehen zu brechen, das als so heilig galt wie das Dogma einer Religion." Und doch war das genau das, was das Trio tat.
Im März 1897 gewannen Gesellius, Lindgren und Saarinen ihren ersten Wettbewerb, ein viergeschössiges Haus in Katajanokka, einem Vorort von Helsinki, für den Geschäftsmann Julius Tallberg, der seinen Sitz in der finnischen Hauptstadt hatte. Eine relativ schnörkellose Konstruktion mit Tendenzen zur Art Nouveau und laut Marika Hausen ein Gebäude, das sich stark von der damaligen in Finnland dominierenden Neo-Renaissance Architektur abhob.Das Tallberg Gebäude verhalf, in Verbindung mit folgenden Wettbewerbseinreichungen, die gut ankamen, dem Architekturbüro des Trios zu einem Ruf moderner Designs und individueller, freidenkerischer Herangehensweisen, bevor Gesellius, Lindgren und Saarinen 1898 ihren ersten großen Durchbruch feiern konnten - sie gewannen den ersten Preis im Wettbewerb um den Finnischen Pavillon für die Weltausstellung 1900 in Paris. Das dominanteste Merkmal des Pavillons; der ansonsten eine eingeschossige, gotisch anmutende Holzkonstruktion mit Gemäueroptik ist; war, ist und wird für immer ein unfassbar dekadenter Turm sein, der in einer von Ludwigs II unwahrscheinlicheren Fantasien nicht fehl am Platz wirken würde. Nicht unschön, verstehen Sie. Nur schlichtweg bizarr.
Angefeuert vom Erfolg in Paris und ihrer zunehmenden Position als eines der führenden zeitgenössischen Architekturstudios Finnlands sah man Gesellius, Lindgren und Saarinen in den folgenden Jahren eine Reihe von prestigeträchtigen Aufträgen ausführen, sowohl zu Hause, als auch im Ausland, darunter auch private Häuser in den deutschen Städten Alt Ruppin und Bad Honnef, das Nationalmuseum in Helsinki und den neuen Hauptbahnhof der Stadt, ein Projekt welches eine der entscheidendsten Arbeiten des Studios darstellen sollte - und eine der letzten. 1907, noch während des Baus des Hauptbahnhofs, trennte sich Saarinen von Gesellius und Lindgren, um sein eigenes Büro zu gründen.
Auf sich allein gestellt vollendete Eliel Saarinen zahlreiche repräsentable Architekturprojekte, sowohl in Finnland als auch im Ausland und zusätzlich beschäftigte er sich mit Fragen der Stadtplanung, darunter auch die Arbeit an Projekten für Städte so vielfältig wie Budapest, Canberra, Tallinn und Helsinki, bevor er im November 1922 seinen Entwurf für den Chigago Tribune Tower Wettbewerb einreichte: ein Moment, der eine dieser glücklichen Fügungen des Schicksals werden sollte.
Ausgezeichnet mit dem zweiten Platz demonstrierte Saarinens Entwurf seine Bewegung hin zu annähernd vollkommener Ablehnung von Ornamentverzierungen und seine eher wachsende Konzentration auf formale Klarheit in einer monumentalen Arbeit, die zurückblickte auf historische Urbilder, ohne direkt auf sie zu verweisen. Ob durch gutes Design oder glückliche Fügung - Saarinens reduziertem gotischen Konzept, im Wesentlichen seiner Ornamente und Schnörkel beraubt, aber trotzdem mit genug Liebe zum Detail, um nicht das Zartgefühl der amerikanischen 20er-Jahre zu verletzen, begegnete man mit viel begeisterter Zustimmung und auch die Jury lobte, es zeige ein "beeindruckendes Verständnis für die Anforderungen an ein Amerikanisches Bürogebäude"Die ganze Gestaltung war mit Sicherheit für amerikanisches Verständnis besser greifbar als so manch andere Entwürfe von Europäern, insbesondere vielleicht die von Walter Gropius und Adolf Meyer, Max Taut oder der Werkstatt für Massenform aus Wien, deren Beiträge weniger der Stoff waren, aus dem der Amerikanische Traum gemacht ist, sondern vielmehr der Amerikanische Albtraum. Gleichzeitig hätten die Arbeiten wohl, wären sie realisiert worden, die modernistischen Bemühungen in Amerika eher 10 Jahre zurückgeworfen, anstatt sie voranzutreiben, wie es Saarinens Entwurf zweifelsohne tat und damit unaufhaltsam Richtung Art déco steuerte.
Optimistisch gestimmt vom Erfolg seines Entwurfs und motiviert von der positiven Resonanz, wanderte Eliel Saarinen 1923 zusammem mit seiner Frau Loja und den beiden Kindern Eva-Lisa und Eero nach Amerika aus.
Warum genau die Saarinens in die USA zogen ist unklar, sogar Albert Christ-Janer kann keinen eindeutigen Grund ausmachen und das, obwohl er unzählige Stunden damit verbracht hat, Saarinen für seine sonst so umfangreiche Biografie zu interviewen. Was jedoch bekannt ist, ist, dass die Chicago Tribune Saarinen als Folge des positiven Zuspruchs auf seinen Wettbewerbsentwurf nach Amerika einlud.
Dort angekommen und der Realität der zeitgenössischen Amerikanischen Architektur und Lebensart ausgesetzt, bemerkte Saarinen vermutlich, dass es zu diesem Zeitpunkt des Amerikanischen Wirtschaftsaufschwungs für ihn dort mehr Möglichkeiten gab als in Europa und besonders in Finnland und so entschloss er sich, den Atlantik zu überqueren und sein Glück zu versuchen. Ungeachtet der Gründe stellte sich heraus, dass das eine gute Entscheidung war: Amerika entpuppte sich als vielversprechendes Jagdgebiet für Eliel Saarinen, und er selbst wurde zu einem bedeutsamen Protagonisten in der Entwicklung Amerikanischer Architektur und Designs des 20. Jahrhunderts.
Nachdem er sich in Amerika niedergelassen hatte, nahm Eliel Saarinen eine Lehrposition an der Universität von Michigan auf, im Zuge dessen er auch einen gewissen J. Robert F. Swanson unterrichtete. Nach seinem Abschluss eröffnete Swanson ein Studio mit Henry S. Booth. Booths Vater, der Zeitungsherausgeber George Gough Booth, bot dem Duo einen Job an: Er plante, eine neue Schule auf seinem Cranbrook Anwesen in Bloomfield Hills nahe Detroit zu errichten, woraufhin Swanson und Booth Junior an Eliel Saarinen herantraten, um ihn zu fragen, ob er Interesse daran hätte, dem Unternehmen beizutreten. Mit etwas Überzeugungsarbeit und nach eingehendem Austausch über weitreichendere Zielsetzungen der Schule mit George Gough Booth, akzeptierte Eliel Saarinen das Angebot und wurde 1925 der Chefarchitekt des Projekts. Die Cranbrook Jungenschule wurde 1928 fertig gestellt, 1931 folgte dann die benachbarte Kingswood Mädchenschule, 1932 wurde Eliel Saarinen zum Präsidenten der neu gegründeten Cranbrook Academy of Art berufen, bevor er die Gebäude des Cranbrook Art Museums und der Academy Bibliothek 1942 fertig stellte.
Von Booth grundsätzlich als ein Ort konzipiert, an dem Amerikas hellste Köpfe der Architektur, Kunst und des Designs mit Ruhe und Tiefgang studieren können, anstatt nach Europa reisen zu müssen, brachte die Cranbrook Academy of Art einige der wichtigsten Talente des Amerikanischen kreativen Schaffens der Nachkriegszeit hervor, darunter unter anderem Harry Bertoia, Eero Saarinen, Charles Eames , Ray Kaiser und Florence Schust, ehemalige Florence Knoll. Zusätzlich zu seiner Arbeit in Cranbrook waren Eliel Saarinens Jahre in Amerika geprägt von Bauten wie der Kleinhans Music Hall in Buffalo, dem Des Moins Art Center in Iowa und Christ Church Lutheran, Minneapolis; Werke, die er oft in Zusammenarbeit mit Eero Saarinen fertigte. 1946 legte Eliel Saarinen seine Position in Cranbrook nieder, blieb jedoch Leiter der Fakultät Architektur und Stadtdesign. Eliel Saarinen starb am 1. Juli 1950 in seinem Haus in Cranbrook.
Es wird oft davon gesprochen, dass Eliel Saarinens Leben in zwei Hälften gespalten war. Während der ersten Hälfte ein finnischer Architekt in Finnland, in der zweiten Hälfte ein internationaler Architekt in Amerika. Obwohl das offensichtlich eine wirklich übertriebene Verallgemeinerung ist, steckt gerade so viel Wahrheit darin, dass sie doch irgendwie zutrifft. Und es uns erlaubt, sie auszunutzen. Mit seinem konsequenten Streben weg vom Historizismus und der Entwicklung einer eigenen finnischen Herangehensweise an Modernismus frei von unnötigem Kitsch oder Romantik hat Eliel Saarinen nicht nur dazu beigetragen, ein neues Verständnis von Architektur in Europa zu schaffen, sondern auch ein neues Verständnis für Finnland, sowohl in Finnland, als auch darüber hinaus. Das späte 19./ frühe 20. Jahrhundert war eine politisch und kulturell aufgewühlte Zeit in Finnland und Eliel Saarinen half den Finnen, einen Sinn für ihre nationale Identität zu entwickeln, allerdings ohne den Sinn von Nationalstolz, der solche Entwicklungen oft trübt. Oder wie Alvar Aalto schrieb: "Eliel Saarinen verhalf dazu, etwas von dem architektonischen Analphabetismus und den Minderwertigkeitskomplexen loszuwerden, in einem Land, welches wegen seiner Isolation und der Schwierigkeit, die es für Fremde bedeutet, die Sprache zu lernen, von den größeren kulturellen Zentren der westlichen Welt abgeschnitten war und immernoch ist." Worte, die poetisch wiederholt wurden von der Jury des Tribune Tower Wettbewerbs und ihrer allzu offensichtlichen Verzückung, dass "nur ein ausländisches Design eine herausragende Leistung ist, und dieses wahrhaft wunderbare Design kommt nicht aus Frankreich, Italien oder England, den anerkannten Zentren der europäischen Kultur, sondern aus der kleinen nördlichen Nation Finnland."
Es liegt so etwas herrlich Erniedrigendes und gleichzeitig geistig Erhebendes in dem Ausdruck "kleine nördliche Nation".
Genauso wie er Finnland geholfen hat, ein Art von Identität zu entwickeln, so half er auch den amerikanischen Designern der Nachkriegszeit, eine angemessene Stimme und Formsprache für ihre Epoche zu finden.
Obwohl man darüber streiten kann, inwiefern Eliel Saarinen persönlich für den Erfolg und die spätere Anerkennung von Cranbrook verantwortlich war, hat er die Schule in den 25 Jahren seiner Mitarbeit sowohl physisch als Architekt aufgebaut, als auch pädagogisch als Präsident und Fakultätsoberhaupt. Außerdem war es Saarinen, der so beeindruckt war von Charles Eames Arbeiten, dass er ihm persönlich ein Stipendium in Cranbrook anbot und der dann auch den jungen Eames aufforderte, an zahlreichen Projekten mitzuarbeiten, darunter auch die Entwicklung von Möbelentwürfen, womit er bedeutenden Einfluss auf Eames hatte, während dieser seine eigenen Designvorstellungen entwickelte.
Es ist unfair Cranbrook mit Bauhaus und sicher auch Saarinen mit Gropius zu vergleichen, aber auf ihre ganz eigene Art haben beide dazu beigetragen, eine junge Generation von Designern und Architekten in eine neue Zukunft zu geleiten und daher, mit Blick auf die zentrale Rolle, die Eliel Saarinen in der Entwicklung moderner Architektur und Designs in Amerika gespielt hat, wäre eine angemessenere und passendere Art, Eliel Saarinen vorzustellen wohl "Vater des Amerikanischen Modernismus der Jahrhundertmitte..." Happy Birthday, Eliel Saarinen! PS: Und für alle, die denken, wir hätten es vergessen...haben wir nicht: Happy Birthday, Eero Saarinen!