Man erzählt sich, dass an Tagen, an denen seine Skizzen nicht seinen eigenen selbstkritischen Ansprüchen gerecht wurden, der schweizer Architekt und Stadtplaner Le Corbusier den Stift zur Seite gelegt und leise gesagt habe: "c'est difficile l'architecture"
Ähnlich kompliziert ist es, die vielfältigen Talente und Leidenschaften Le Corbusiers zu beschreiben und zu erklären.
Eine Option, und wohl die beste, wäre, sich auf nur einen Aspekt von Le Corbusiers Oeuvre zu beschränken und diese konzentrierte Analyse als Ausgangspunkt für einen breiteren Überblick zu nutzen. Genau diesem Ansatz folgt auch das Centre Pompidou bei seiner Ausstellung "Le Corbusier - The measures of man".
Der 1887 als Charles-Édouard Jeanneret-Gris in La Chaux-de-Fonds im schweizer Juragebirge geborene (zukünftige) Le Corbusier begann ursprünglich mit einer Ausbildung zum Uhrenmacher, bevor er sich während seines Studiums an der örtlichen Kunst- und Handwerkshochschule zunehmend für Kunst, und vor allem für Architektur zu interessieren begann. Als passionierter Reisender waren Charles-Édouards Bildungsjahre gespickt von Reisen durch die Schweiz, den Balkan, Griechenland, die Türkei, Frankreich und Italien; Reisen auf denen er unzählige Studien der jeweiligen Architektur und Landschaft anfertigte, vor allem von den zahlreichen Überbleibseln klassischer römischer und griechischer Architektur. Diese Erfahrungen stärkten seine Leidenschaft für Architektur ganz besonders.
Im Jahr 1910 verschlug es Charles-Édouard nach Dresden, genauer gesagt nach Hellerau, wo sein Bruder Albert bei dem schweizer Komponisten Émile Jaques-Dalcroze Musik studierte. Fasziniert von Dalcrozes Methoden bei seiner Lehre der Eurythmie - dazu gehörte die Verbindung von Musik und Bewegung und die Idee Musik eher zu spüren als einfach nur zu hören - wollte der junge Charles-Édouard nicht nur mehr über Dalcrozes Philosophie, sondern auch über ähnliche Reformisten, psychophysiologische Theorien und Praktiken erfahren. Die Verbindung seines Interesses an klassischer Architektur mit seiner neu entdeckten Leidenschaft am progressiven Denken brachte Charles Édouard langsam dazu, eine Serie von Studien über die Proportionen des menschlichen Körpers anzufertigen und so auf die Suche nach einem einheitlichen, am Menschen orientierten Maßstabssystem zu gehen. Diese Studien definierten in vielerlei Hinsicht Corbusiers zukünftige Arbeiten und bilden die Basis für "Le Corbusier - Die Maße des Menschen".
Die in zwölf Abschnitte unterteilte Ausstellung "Die Maße des Menschen" nimmt den Besucher mit auf eine Reise durch Charles-Édouard Jeanneret-Gris' Leben und Arbeit - von seinen frühen Reisen und der Literatur der frühen 1920er Jahre, die seine Weltsicht formten, über frühe puristische, kubistische Arbeiten bis zur Annahme seines nom de plume, oder besser gesagt seines nom de guerre, "Le Corbusier" und bis zu seinem berüchtigten Pavillon auf der Weltausstellung 1925 in Paris. Bevor man dann in der Mitte der Ausstellung auf den Höhepunkt aus drei Jahrzehnten Forschung und Experimenten stößt: den Modulor.
Ähnlich wie Da Vincis Vitruvianischer Mensch und die zahlreichen Variationen danach, untersucht der Modulor die Proportionen eines standardisierten, idealen Menschen: Da Vincis Vitruvianischer Mensch misst 24 Handflächen, Le Corbusiers Mann ist 1,83 Meter groß - 2,26 mit über dem Kopf ausgestreckten Armen. Im Verlauf der ungefähr 20 Skizzen verdeutlicht "The measures of man", wie Le Corbusier seine Theorie entwickelte, bevor dann im nächsten Raum die Kuratoren erklären, wie Le Corbusier sein Modulor System im folgenden anwandte: die zahlreichen Unité d'habitation Blöcke in Frankreich und Deutschland, das Carpenter Center for the Visual Arts in Cambridge, Massachusetts, die Kapelle Notre Dame du Haut in Ronchamp, die Stadt Chandigarh in Nordindien und schließlich sein eigenes 14 Quadratmeter großes Le Cabanon Haus in Roquebrune-Cap-Martin an der Cote d'Azur - wo die Ausstellung endet und wir Le Corbusier seinen wohlverdienten Frieden lassen.
Neben der Untersuchung von Le Corbusiers antromorphen Studien erklärt "The measures of man" auch Le Corbusiers "fünf Prinzipien der Architektur". Diese werden wahrscheinlich am besten von seinem Villa Savoye Projekt veranschaulicht. Zudem gehört zur Ausstellung auch ein Überblick über die Möbeldesigns von Le Corbusier - was Pflicht bei jeder Corbusier-Ausstellung sein müsste, ganz egal wie gut es zum jeweiligen Thema passt. Und im Falle des Centre Pompidou passt dieser Überblick nicht allzu gut hinein. Das liegt vor allem daran, dass die Möbel (alle wissen es, weigern sich jedoch hartnäckig es auch zu akzeptieren) vor allem das Werk Charlotte Perriands sind, und deshalb nicht sonderlich gut veranschaulichen, wie Le Corbusier den menschlichen Körper verstand. Abgesehen davon ist auf der Ausstellung ein beeindruckendes frühes Exemplar des LC2 Sessels zu sehen, aber das wäre ein Thema für einen anderen Post.
"The measures of man" ist eine exzellent konzipierte und realisierte Ausstellung, die ein zeitweise sehr diffiziles Thema zugänglich und unterhaltsam macht. Die Ausstellung erklärt wunderbar, warum Le Corbusier eine so faszinierende und wichtige Gestalt ist. Und das mit einem Tiefgang, der einerseits neue Einsichten und Perspektiven für alle mit Le Corbusier Vertrauten bereit hält, aber auch mit der nötigen Leichtigkeit für alle, die nur mit dem Namen vertraut sind, und Le Corbusiers Werk in seinem ganzen Umfang nicht kennen.
Le Corbusier - The Measures of Man läuft im Centre Pompidou, Place Georges-Pompidou, 75191 Paris bis Montag, den 3. August. Alle Details sind unter www.centrepompidou.fr zu finden.