"Die Probleme der Neuen Wohnung wurzeln in der veränderten materiellen, sozialen und geistigen Struktur unserer Zeit; nur von hier aus sind diese Probleme zu begreifen. Der Grad der Strukturveränderung bestimmt Charakter und Ausmaß der Probleme. Sie sind jeder Willkür entzogen. Mit Schlagworten sind sie nicht zu lösen, mit Schlagworten aber auch nicht fortzudiskutieren. Das Problem der Rationalisierung und Typisierung ist nur ein Teilproblem. Rationalisierung und Typisierung sind nur Mittel, dürfen niemals Ziele sein. Das Problem der Neuen Wohnung ist im Grunde ein geistiges Problem und der Kampf um die Neue Wohnung nur ein Glied in dem großen Kampf um neue Lebensformen."
So begrüßte Ludwig Mies van der Rohe im Amtlichen Katalog Besucher der Weissenhofsiedlung Stuttgart, die am Samstag, 23. Juli 1927, für die breite Masse eröffnet wurde und setzte damit Maßstäbe und Prioritäten für eines der bedeutendsten Ereignisse in der Geschichte der zeitgenössischen Architektur.
Obwohl sie allgemeinhin als Gebäudeausstellung betrachtet wurde, beinhaltete das Projekt Weissenhofsiedlung Stuttgart drei verschiedene Ausstellungen und wurde eigentlich auch nicht Weissenhofsiedlung Stuttgart genannt, sondern Die Wohnung.
Zusätzlich zu der bekannten Weissenhofsiedlung mit ihren 64 Musterwohnungen, die sich auf 33 Häuser von Architekten wie J.J.P. Oud, Le Corbusier, Mart Stam, Peter Behrens und Hans Scharoun verteilen, zeigte Die Wohnung auch eine Ausstellung mit an die 500 Schornsteinen und Modellen moderner Architekturprojekte von internationalen Architekten so vielfältig wie Frank Lloyd Wright, Max Ernst Haefeli, Rietveld & Schröder oder die Stuttgarter Rasch-Brüder. Abgesehen von dem physischen Gebäude als solches, enthielt Die Wohnung außerdem eine Präsentation zeitgenössischer Möbel, Armaturen und technischen Zubehörs für das moderne Zuhause. In einem Austellungs-/Messenkonzept, das von Lily Reich realisiert wurde und sich über 9 Messehallen und den Stadtgarten Stuttgart erstreckte, konnten Besucher Konzepte und Produkte betrachten, so wie die Küche Frankfurt von Margarete Schütte-Lihotzky, Poul Henningsen Lampen von Louis Poulsen, elektronische Haushaltsgeräte von Herstellern wie Miele, AEG und Siemens und Möbelstücke unter anderem von Walter Knoll, Deutsch Werkstätten Hellerau und Thonet.
Damit bot die Weissenhofsiedlung dem Besucher alles was er brauchte, um das zeitgenössische Wesen der Gebäude- und Designkultur dieser Epoche zu verstehen, mit einem Tagesticket für 2 Reichsmark.
Und die Öffentlichkeit nutzte diese Chance. Etwa 500000 Menschen besuchten Die Wohnung, bevor sie schließlich am 31. Oktober 1927 ihre Pforten schloss. Besucher der Ausstellung konnten jedoch nicht viel mehr von ihr mitnehmen als die Erinnerungen vor ihrem geistigen Auge, denn nicht nur das Fotografieren der Gebäude war untersagt, sondern sogar das Skizzieren. Seltsamerweise war das Ausmessen hingegen gestattet, vorausgesetzt, es lag eine schriftliche Erlaubnis vor.
In den folgenden Jahrzehnten litten die Gebäude der Weissenhofsiedlung unter den zusammenfließenden negativen Konsequenzen des faschistischen Dogmas, des Krieges und allgemeinen Desinteresses; trotzdem blieben etwa zwei Drittel der Bauten erhalten und heute dient die Weissenhofanlage dem Zweck, dem alle guten Siedlungen dienen sollten - sie beherbergt echte Menschen. Dazu kommt, dass die Weissenhofsiedlung als historisches Dokument perfekt die Visionen der führenden Architekten der Moderne demonstriert, sowie die Einschränkungen, die damalige Materialen und Techniken mit sich brachten.
Folglich müssen Architekten und Designer immer danach streben, neue Herangehensweisen zu finden, die ein Verständnis für die sich ändernden Materialien, aber auch die sozialen und intellektuellen Strukturen ihrer Zeit vermitteln.