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Unsere Meinung über Chemnitz ist ja allgemein bekannt. Wenn man sich aber von Chemnitz aus weiter in Richtung Süden bewegt, kommt man in eine gottverlassene Gegend von Deutschland, in der die Zeit scheinbar stehen geblieben ist. Ähnlich wie Bhutan ist auch das Erzgebirge eine autonome, unzugängliche Bergregion, wo der Mangel an Kontakt mit der Außenwelt dazu geführt hat, dass das Wissen der restlichen Bevölkerung über dieses Gebiet hauptsächlich aus Mythen, Legenden und den vergilbten Reisetagebüchern von Forschern längst vergangener Jahrhunderte stammt.
Deshalb ist es umso erstaunlicher, dass es ein Designobjekt aus dem Erzgebirge bis in die ständige Sammlung des Museum of Modern Art in New York geschafft hat - und ins V&A Museum in London. Bei diesem sagenumwobenen Stück handelt es sich um den Schaukelwagen von Hans Brockhage.
Fairerweise sollten wir an dieser Stelle aber wohl erwähnen, dass der Schaukelwagen eigentlich erst in Dresden Gestalt annahm...
1925 in Schwarzenberg geboren, begann Hans Brockhage 1945 eine Tischlerlehre und schrieb sich 1947 an der Hochschule für Werkkunst Dresden ein - dort lernte er unter anderem bei Mart Stam und Marianne Brandt. Nach der Zwangsschließung der Hochschule für Werkkunst Dresden während des Zweiten Weltkriegs, öffnete sie 1947 wieder und startete einen kurzlebigen Versuch, die Bauhaus-Tradition in der DDR fortzusetzen. Doch die etwas elitäre Bewegung passte nicht so ganz zum egalitären Sozialismus in Ostdeutschland. Nach dem Zusammenschluss mit der Akademie der Bildenden Künste in Dresden im Jahr 1950 schloss 1952 die Fakultät für Industriedesign und letztlich die gesamte Hochschule für Werkkunst.
Nach der Schließung der Schule war Hans Brockhage zunächst als freischaffender Künstler und Bildhauer tätig. Er arbeitete hauptsächlich mit Holz, später auch mit Beton und Bronze, bevor er 1967 einen Posten als Lehrer für Industriedesign an der Burg Giebichenstein Halle antrat. 1977 wurde er dann Professor an der Fachhochschule für Angewandte Kunst Schneeberg.
Während seiner Zeit in Dresden lernte Hans Brockhage Erwin Andrä kennen, der dort als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig war. Nach der Schließung der Hochschule für Werkkunst trat Erwin Andrä der SED bei und schlug eine Art Beamtenlaufbahn ein, indem er für zahlreiche Ministerien und Institutionen arbeitete. So war er ab 1961 auch Direktor des ostdeutschen Instituts für Spielzeug. Die Wege von Hans Brockhage und Erwin Andrä kreuzten sich 1964 erneut, als letzterer Rektor des Instituts für Industriedesign an der Burg Giebichenstein wurde. Die erfolgreichste und dauerhafteste Verbindung zwischen den beiden wurde aber fraglos 1950 mit dem Schaukelwagen geknüpft.
Wenn man Hans Brockhages Website Glauben schenken darf - wir können das jedenfalls weder be- noch widerlegen - begann der Weg des Schaukelwagens mit einem gewöhnlichen Schaukelpferd. Als Mart Stam die Arbeit sah, soll er in seinem besten, niederländischen Deutsch gesagt haben: "Wenn Pferd fällt um, ist Pferd tot. Du mußt machen Pferd, das nicht tot ist, wenn fällt um". Das Ergebnis ist ein Schaukel-"Pferd", das, wenn es umfällt zu einem "Wagen" wird. Der Schaukelwagen ist also ein Objekt, dessen Form Raum für Interpretationen lässt, und sich damit an die natürliche Neugier von Kindern und ihre Vorliebe, Objekte immer wieder neu zu erfinden, richtet. Wenn man so will, ist das Ganze wie ein leerer Pappkarton - nur mit mehr Möglichkeiten...
Mal abgesehen von den offensichtlichen optischen Parallelen zum traditionellen Schwibbogen, der ja das Herzstück der erzgebirgischen Wirtschaft bildet, und der unverkennbaren Anspielung auf Rietveld, ist das wirklich Geniale am Schaukelwagen von Hans Brockhage der Sitz - eine geformte Sperrholzkonstruktion, die beidseitig verwendet werden kann. Eigentlich total simpel, aber erst der Sitz macht die von Mart Stam gestellte Aufgabe an den Schaukelwagen möglich und schließlich den Kern seiner Funktionalität aus.
Als DDR-Produkt, das nicht so recht in die strikten Vorgaben der DDR-Produktionspraktiken passen wollte, ging der Schaukelwagen von Hans Brockhage nie in Massenproduktion. Zunächst war er noch über die VEB Holzpspielwarenwerke Ohrdruf und später über die Tischlerfirma Gottfried Lenz in Berggießhübel erhältlich, schließlich verschwand der Schaukelwagen aber mehr oder weniger von der Bildfläche. 2011 erwarb der Spielzeughersteller Werkform aus Langenau im Erzgebirge die Fertigungslizenz und hauchte einem der schönsten Stücke der DDR-Designgeschichte so neues Leben ein ...und schuf damit eine der wenigen Verbindungen zwischen dem Erzgebirge und der Zivilisation.
1.http://www.hans-brockhage.de/ Besucht am 31.07.2012