Am 23. Juli 2012 feiert die Weißenhofsiedlung Stuttgart ihren 85. "Geburtstag"; ein Anlass, der einen nahezu perfekten Vorwand bietet, einen der wichtigsten Momente in der europäischen Moderne noch einmal Revue passieren zu lassen. Auch wenn wir dafür eigentlich keinen Vorwand brauchen...
Initiiert vom Deutschen Werkbund in Kooperation mit dem Stuttgarter Gemeinderat, umfasste die Weißenhofsiedlung 63 Wohnungen in 33 Gebäuden, die von ausgezeichneten internationalen Architekten entworfen wurden. Sie war allerdings nur ein Teil einer größeren Ausstellung mit dem Titel Die Wohnung, bei der die Zukunft "häuslicher Einrichtungen" etwas allgemeiner im Kontext der wirtschaftlichen Situation Europas zwischen den Weltkriegen beleuchtet wurde.
Die Sektion Baden-Württemberg des Deutschen Werkbundes formulierte das Hauptziel des Projekts in ihrer Veröffentlichung Die Wohnung der Neuzeit als "...eine Verbilligung der Wohnungsanlagen und des Wohnbetriebs sowie [...] eine Vereinfachung der Hauswirtschaft und eine Verbesserung des Wohnens selbst [...]" - ein Ziel, das hauptsächlich durch die Verwendung neuer Materialien, neuer Verfahren und neuer Technologien erreicht werden sollte. Ja ja, wir wissen schon... aber damals war das ziemlich revolutionäres Zeug.
Man darf nicht vergessen, dass es damals eine Zeit war, in der opulente Ornamente noch als Statussymbol galten. Nichts machte so viel her wie eine Wohnzimmeranrichte, die so aussah als wäre sie aus einem einzigen Baum geschnitzt. Das ist natürlich auch einer der Gründe dafür, wieso die Weißenhofsiedlung so wichtig war und auch heute noch ist: Sie brachte eine neue Denkweise einem breiten Publikum nahe, und das in einer klaren, verständlichen Form, die vor allem auf dem fußte, was möglich war, und nicht auf einer unerreichbaren, futuristischen Vision. Die Weißenhofsiedlung bestand aus echten Häusern, in denen echte Menschen leben sollten.
Der Bau der Weißenhofsiedlung begann am 1. März 1927; die Ausstellung eröffnete am 23. Juli und lief bis zum 31. Oktober. Sie zog in dieser Zeit über eine halbe Million Besucher an; eine Zahl, die wie auch bei Design for Use, USA, im Kontext der Zeit mit den damaligen Transportmöglichkeiten gesehen werden muss. Wenn man das nämlich tut, kommt man zu dem Schluss, dass die Ausstellung nicht nur die Massen in ihren Bann zog, sondern auch ein riesiger Erfolg war.
Leider haben nicht alle Gebäude überlebt; sowohl der Krieg als auch spätere Vernachlässigung machten die Bemühungen von Max Taut oder Hans Poelzig zunichte. Doch immerhin stehen zwei Drittel der Gebäude noch heute und sollten unbedingt besucht werden.
Es wäre viel zu einfach, den Modernismus auf ein paar Stühle und die Bauhaus-Schule(n) zu reduzieren. Wir wissen, dass wir das schon oft gesagt haben, aber es ist wirklich wichtig. Denn um zu verstehen, wo wir derzeit mit Design und Architektur stehen, muss man auch verstehen, was Leute wie Mies van der Rohe, Walter Gropius oder Mart Stam wollten, wieso sie es wollten, wie sie es erreichen wollten, und auch wie ihre Gegner sie davon abhalten wollten.
Die Weißenhofsiedlung Stuttgart beantwortet zwar nicht all diese Fragen, sie ist aber ein sehr wichtiges Teil in diesem großen Puzzle.