Als wir noch jung, fit und gesund waren, existierten Städte.
Sie existierten einfach nur.
Heutzutage muss eine Stadt, um zu existieren, die "Stadt des/der" XY sein. So steht, wenn man die Autobahn in Deutschland entlang fährt, alle zehn Meter ein braunes Schild am Straßenrand, das den nächsten Ballungsraum als "Chemnitz - Die Stadt der Moderne", "Stadt Hameln - Die Rattenfängerstadt im Weserbergland" oder "Pier am Chiemsee - Die Stadt der kriminell faulen Taxifahrer" anpreist.
Da Weil am Rhein in diesem Zeitalter des Behauptens kein Außenseiter sein will, hat sich die Stadt dazu entschieden "Weil am Rhein - Die Stadt der Stühle" zu sein.
Und was wäre auch passender für eine Stadt, die auf ihrer Homepage ein Bild des Vitra Design Museums zur Illustration der Kategorie "Wirtschaft und Tourismus" benutzt und die pro Jahr 100,000 Touristen auf dem Vitra Campus in der Charles-Eames-Straße verzeichnet.
Außerdem ist der aktuelle Titel um einiges eingängiger als "Weil am Rhein - Die Stadt des großen Güterbahnhofs".
Es gibt nur zwei Dinge, die uns stören.
Unbedeutende, kleine Dinge, aber Sie kennen uns...
Vor dem modernistisch inspirierten "Rheincenter" steht die große Statue eines Stuhls.
Ein Stuhl, der weder jetzt noch irgendwann einmal von Vitra produziert wurde oder wird. Eher vom holländischen Hersteller USM Pastoe. (Den man offensichtlich nicht mit dem Schweizer Hersteller USM Haller verwechseln sollte)
Apple Honey von Shiro Kuramata ist ein wundervoller Stuhl.
Shiro Kuramata partizipierte an den ersten Vitra Editionen, neben Designern wie Frank Gehry und Ron Arad.
Vitra stellte sogar Shiro Kuramatas ebenso wundervollen "How High The Moon" Stuhl her.
Aber nicht Apple Honey.
Noch verwirrender ist das Bild, das auf die Seite eines der vier Hochhäuser gemalt ist, die über dem Vitra Campus und dem VitraHaus aufragen. Direkt neben dem "Die Stadt der Stühle" prangt ein Bild von einem Stuhl.
Ein seltsamer, dreibeiniger Stuhl.
Unsere erste Vermutung war, dass es sich um den DCM von Charles und Ray Eames handelt. Das schien gut zu passen, wenn man die engen Beziehungen zwischen den Eames, Vitra und Weil am Rhein bedenkt.
Allerdings ist der DCM ein vierbeiniger Stuhl.
Und so sehr wir uns auch bemühen, fällt uns kein einziger dreibeiniger Stuhl ein, der von Vitra produziert wird.
Unsere nächste Vermutung war, dass es sich um einen "Ant Chair" von Arne Jacobsen handelt... auch ein exzellenter Repräsentant des Stuhl Designs des 20ten Jahrhunderts. Aber bei einem Ant Chair sind der Sitz und die Lehne aus einem einzigen Stück Holz geformt. Und das einzelne Bein ist vorne.
Dann dachten wir wirklich, wir hätten es: SE 69 von Egon Eiermann. Aber nein, der SE 69 hat ebenfalls ein einzelnes Bein vorne.
Egon Eiermanns SE 42 hat ein einzelnes Bein hinten, ist aber aus Holz.
Je länger wir mitten auf der Römerstraße standen, den Verkehr aufhielten und die guten Bürger von Weil am Rhein verwirrten, desto mehr mussten wir darum ringen, uns einen dreibeinigen Stuhl mit einem hinteren Stahlrohr-Lehnen-Stuhlbein überhaupt vorzustellen.
Prinzipiell, wegen der Instabilität eines solchen Gebildes.
Erst als wir zurück in Leipzig waren, konnten wir den Stuhl dank des MoMA New York Archivs finden.
Dreibeiniger Side Chair von Charles Eames für Evans Products Co, 1944.
Ein Stuhl, der eventuell von Herman Miller übernommen wurde, als sie 1946 die Eames-Rechte von Evans kauften. Somit ist der Stuhl eventuell ein Teil jener Charles und Ray Eames Produkte, deren Produktionsrechte Vitra in Europa besitzt.
Womit wir im Endeffekt lang und breit erklärt haben, dass Weil am Rhein den "Stadt der Stühle"-Status offensichtlich mit zwei Stühlen zelebriert, die nichts mit dem Status der Stadt als einem der wichtigsten Zentren für zeitgenössische europäische Designermöbel-Produktion zu tun haben.
Besucher des neuen VitraHauses können dieses Paradoxon vom Fenster des vierten Stocks aus betrachten.
Oder einfach den wundervollen Blick auf das Vitra Design Museum und die Orchideenwiese genießen.